Das Entwicklungssystem der Vereinten Nationen (United Nations Development System, UNDS) verfügt über einzigartige Vorzüge, die sich aus seinem multilateralen Charakter ergeben. Diese müssen in den Dienst der Transformationen gestellt werden, die die Agenda 2030 vorsieht. Das UNDS befindet sich in einem ehrgeizigen Reformprozess. Nicht zuletzt angesichts des derzeitigen Drucks auf den Multilateralismus müssen sowohl die Mitgliedstaaten als auch die UN-Organisationen ihre Unterstützung für Reformen verstärken. Die COVID-19-Pandemie ist beispielhaft für Herausforderungen, die ein einzelner Staat allein nicht bewältigen kann – niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind. Sie ist eine weltweit geteilte Krisenerfahrung. Multilateral und inklusiv gestaltete Antworten sind erforderlich, um derartige globale Herausforderungen zu bewältigen. Das UNDS ist der größte multilaterale Entwicklungsakteur. In den vergangenen Jahren erhielt es im Schnitt ein Drittel der Entwicklungsgelder an das multilaterale Entwicklungssystem. Seine Funktionen reichen von Dialog, Entscheidungsfindung und Normsetzung über Forschung, Politikberatung, Kapazitätsaufbau, technischer und finanzieller Zusammenarbeit bis zu humanitärer Hilfe und der Anwaltschaft für die Rechte Benachteiligter. Mit diesem facettenreichen Profil und seiner breiten thematischen und geographischen Aufstellung ist das UNDS besonders geeignet, als ein Akteur des Wandels zu wirken. Es kann Regierungen und Bevölkerung helfen, die Transformation hin zu einer nachhaltigen Entwicklung voranzutreiben.
Gleichzeitig braucht das UNDS eine Erneuerung in Bezug darauf, wie es arbeitet, was es leistet, und wie es finanziert wird. Im Jahr 2019 trat eine weitreichende Reform in Kraft, die grundlegende Veränderungen auf nationaler, regionaler und globaler Ebene anstrebt. Das Risiko, das mit dieser Reform einhergeht, ist hoch. Ihr Scheitern würde die erstarkte multilaterale Antwort, die heutige globale Herausforderungen nötig machen, erheblich schwächen und das UNDS möglicherweise auf die Rolle eines überwiegend humanitären Durchführers reduzieren. Dabei wird es als Vorkämpfer der globalen Transformation hin zu nachhaltiger Entwicklung im Einklang mit den Menschenrechten und anderen internationalen Normen benötigt. Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) hat in den vergangenen Jahren mit Forschung, Analysen und Politikempfehlungen zu dem ehrgeizigen Reform-prozess beigetragen. Als eine der wenigen forschungsbasierten Denkfabriken, die sich mit der Reform des UNDS befassen, hat das DIE multilaterale Entscheidungsprozesse ebenso untersucht wie Finanzierungsmuster und Koordinationspraktiken auf Ländereben. Es hat die Inhalte der gegenwärtigen Reformen und deren erster Umsetzung analysiert. In den Jahren 2020/21 nimmt ein Forschungsteam des DIE Postgraduierten-Programms den Stand der Umsetzung der UNDS-Reform auf Länderebene in den Blick.
Die Forschung des DIE bietet Einblicke in die Anreizstrukturen auf Länderebene, unter denen die UN-Organisationen und ihre Mitarbeiter*innen arbeiten. Sie legt offen, wie (fehlende) formale Bestimmungen, Rechenschaftspflichten, und Personalkapazitäten die Koordinierung vorantreiben oder behindern. Die Forschung des DIE wirft auch Licht auf den Kampf um Macht und Kontrolle bei der Entscheidungsfindung zwischen 193 Mitgliedsstaaten, die die Marschrichtung für Veränderungen vorgeben. In einer umfassenden Studie über zweckgebundene Finanzierung unterstreichen Forscher*innen des DIE die negativen Auswirkungen, die für spezifische thematische oder regionale Zwecke bereitgestellte Ressourcen auf die Leistungsfähigkeit des UNDS haben können. Das DIE berät eine Reihe von Bundesministerien in Deutschland, wie diesen unbeabsichtigten Folgen am besten begegnet werden kann. In Gesprächen mit Entscheidungsträger*innen der UN und anderer Mitgliedsstaaten hat es Wege aufgezeigt, wie diese die multilateralen Vorteile des UNDS stärken können.
Durch die Kombination von vertiefter Forschung und Einbindung von Praktiker*innen liefert die Forschung des DIE die Grundlage für Politikansätze, die das multilaterale Entwicklungssystem in Krisenzeiten stärken. Ein wichtiger Partner ist hierbei die schwedische Dag Hammarskjöld-Stiftung (DHF), die die internationale Politik für nachhaltige Entwicklung und Frieden durch Dialog und andere Formate voranbringen möchte. Gemeinsam mit der DHF veranstaltet das DIE internationale Workshops und Tagungen, die Expert*innen und Praktiker*innen zusammenbringen, um multilaterale Entwicklungsorganisationen bei ihren Reformen zu unterstützten. Forscher*innen des DIE haben an verschiedenen Ausgaben des jährlich erscheinenden Berichts zur UN-Entwicklungsfinanzierung mitgewirkt. Diese Berichte enthalten relevante und aktuelle Analysen zu innovativen Finanzierungsinstrumenten sowohl im Hinblick auf die SDG- als auch auf die UNDS-Finanzierung. Mithilfe der Berichte ist es der Stiftung zusammen mit dem Mitherausgeber, dem UN Multi-Partner Trust Fund Office, gelungen, nicht nur die scheinbar technischen, aber sehr folgenreichen Finanzierungsströme an die UN breit zugänglich zu machen, sondern auch das Verständnis für deren Bedeutung bei einem breiteren Kreis von Entscheidungsträger*innen zu verbessern. Um die Rolle des „Globalen Südens“ bei den UN zu untersuchen, arbeitet das DIE weiter mit Partnern aus dem Managing Global Governance (MGG) Netzwerk zusammen, insbesondere mit dem Shanghai Institute for International Studies. Die chinesische Finanzierung und Entscheidungsfindung in Bezug auf das UNDS war Gegenstand einer empirisch ergiebigen Studie, die nicht nur in der UN-Community auf Interesse stieß. Auch UN-Organisationen sind wertvolle Kooperationspartner, allen voran das Wissenszentrum für Nachhaltige Entwicklung des United Nations Staff College (UNSSC) in Bonn.
Fünfundsiebzig Jahre nach der Gründung der Vereinten Nationen steht die regelbasierte internationale Ordnung unter Druck, vielleicht in einem noch nie da gewesenen Ausmaß. Dies bestimmt die Parameter, innerhalb derer sich die Welt derzeit UN-Reformen vor-stellt. Auch wenn die gegenwärtigen Reformen des UNDS im Hinblick auf das politisch Machbare sicherlich ehrgeizig sind, so bleiben sie doch hinter dem zurück, was in einer derartig vernetzten Welt erforderlich ist. Das DIE tritt dafür ein, dass Regierungen die aktuellen Reformen ressortübergreifend politisch und finanziell unterstützen. Gleichzeitig scheint es geboten, das Momentum, das durch den 75. Jahrestag der UN im Jahr 2020 entstanden ist, zu nutzen. Es gilt, ehrgeizigere Vereinte Nationen mit mehr Kompetenzen, mehr Finanzmitteln und größerer Unabhängigkeit aufzubauen, die dazu beitragen, die Politik auf das globale Gemeinwohl auszurichten.
Quelle: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), 22.10.2021