Der Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) hat die bevorstehende Bundestagswahl und das nahende Ende der Legislatur zum Anlass genommen, eine entwicklungspolitische Bilanz zu ziehen. In einem Standpunkt beschreibt der Verband die wichtigsten Ergebnisse der vergangenen acht Jahre Entwicklungspolitik unter Bundesminister Gerd Müller und zeigt auf, wo aktuell die Herausforderungen liegen.
Die Erklärung kam im Herbst 2020 unerwartet. Entwicklungsminister Gerd Müller kündigte überraschend seinen Rückzug aus der Bundespolitik an. Bei der Bundestagswahl 2021 wolle er nicht wieder kandidieren und damit einen Generationenwechsel einleiten. Wir nehmen die bevorstehende Bundestagswahl am 26. September und das nahende Ende der Legislatur zum Anlass, eine entwicklungspolitische Bilanz zu ziehen. Was waren wichtige Ergebnisse der vergangenen acht Jahre unter Müller, wo liegen die aktuellen Herausforderungen und was bleibt für die neue Bundesregierung zu tun?
Schaut man zurück, drängt sich vor allem der Eindruck auf, dass die vergangenen Jahre durch Kriege und Krisen geprägt waren: Der seit zehn Jahren andauernde Krieg in Syrien, die weltweit schlimmste humanitäre Krise im Jemen oder die Zahl der Menschen auf der Flucht, die auf mehr als zehn Millionen gestiegen ist. Zuletzt hat die Corona-Pandemie
Armut, Hunger und Ungleichheit weltweit nochmals verschärft. Gleichzeitig geriet vor allem in der Ära des früheren US-Präsidenten Donald Trump der Multilateralismus in eine große Krise. Die aktuellen Spannungen zwischen den USA, China und Russland wecken Erinnerungen an den Kalten Krieg.
Beim Rückblick auf die letzten Jahre sehen wir aber auch enorme Meilensteine für die internationale Zusammenarbeit. In den Weltklimaverhandlungen gelang 2015 mit dem Pariser Abkommen ein Durchbruch. Mit der Agenda 2030 und ihren 17 Zielen wurde im selben Jahr ein neuer Zukunftsplan für nachhaltige Entwicklung weltweit verabschiedet. In
der Migrationspolitik ist die Weltgemeinschaft mit den Globalen Pakten für Flucht und Migration im Jahr 2018 ein Stück weit vorangekommen. Bemerkenswert im Kontext all dieser Entwicklungen ist der Bedeutungszuwachs, den die Entwicklungspolitik erfahren hat. Sie ist keine Nischenpolitik für Weltverbesser_innen mehr, sondern steht im Zentrum der Kernfrage, wie wir das Zusammenleben heutiger und zukünftiger Generationen auf diesem
Planeten gestalten. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat in diesem Sinne in der Amtszeit von Minister Müller eine ganze Reihe von Initiativen und Strategien entwickelt und innerhalb der Bundesregierung vorange bracht. Folgende erscheinen uns dabei besonders bemerkenswert.
Deutschlands Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung weltweit
Mit dem ersten großen Projekt seiner Amtszeit lieferte Minister Müller Antworten auf die Frage, wie Deutschland zu einer nachhaltigen Entwicklung weltweit beitragen kann. Die Zukunftscharta „EINEWELT – Unsere Verantwortung“ blieb in ihren Aussagen zwar allgemein und lieferte keine konkreten Indikatoren für die Umsetzung, präsentierte jedoch ein breites Verständnis von nachhaltiger Entwicklung, das Kohärenz zwischen allen Politikfeldern forderte. Damit war die Zukunftscharta bereits vor Verabschiedung der Agenda 2030 ein Beispiel dafür, wie die gesamte deutsche Politik auf nachhaltige Entwicklung und Zukunftsfähigkeit ausgerichte werden müsste. In der Folge spielte sie aber keine große Rolle mehr. Stattdessen machte die Bundesregierung die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zu ihrem zentralen Instrument für die Umsetzung der Agenda 2030. Auch wenn die Strategie in den letzten Jahren kontinuierlich weiterentwickelt wurde,
zeigt sich in ihr bis heute ein starker Fokus auf nationale Ziele und Indikatoren. Die globalen Wirkungen deutschen Handelns sollten viel stärker abgebildet werden. Das gilt vor allem für Bereiche wie die wachstums- und exportorientierte Wirtschaftspolitik sowie die Agrar- und Handelspolitik. Auch der Entwicklungsausschuss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) spricht in seinem Bericht des Peer Review 2021 die klare Empfehlung aus, dass Deutschland Spill-over-Effekte systematischer analysieren und sich stärker um Kohärenz bemühen sollte.
Das Lieferkettengesetz kommt
Die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards in der weltweiten Produktion ist seit vielen Jahren eines der Kernanliegen von entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen (NRO). Zahlreiche Kampagnen haben immer wieder auf skandalöse Arbeitsbedingungen und unhaltbare Zustände entlang der globalen Lieferketten deutscher Unternehmen hingewiesen. Im April 2013 starben über Tausend Menschen bei dem Einsturz eines achtstöckigen Textilfabrik-Gebäudes in Dhaka in Bangladesch. Diese Katastrophe steht symptomatisch für die desolaten Arbeits- und Sicherheitsbedingungen in der gesamten Textil-, Kleider- und Schuhindustrie weltweit. Für Minister Müller war sie der Anstoß zur Gründung eines „Textilbündnisses“, einer freiwilligen Initiative zur Verbesserung der Bedingungen in der weltweiten Textilproduktion. Auch wenn NRO das Textilbündnis genutzt haben, um Initiativen zur Beendigung von Ausbeutung voranzubringen, war ihr Tenor von Anfang an: Freiwillige Initiativen reichen nicht aus. Zu diesem Schluss kam auch Minister Müller 2020. Gemeinsam mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil legte er einen Entwurf für ein Lieferkettengesetz vor und stritt für dessen Verabschiedung noch in dieser Legislatur. Es ist ein großer Erfolg, nicht zuletzt auch der von VENRO mit unterstützten Initiative Lieferkettengesetz, dass der Bundestag am 11. Juni 2021 das Gesetz verabschiedet hat. Auch wenn es noch große Schwächen aufweist, ist damit ein wichtiger Paradigmenwechsel von Freiwilligkeit zu verbindlichen Vorgaben für Unternehmen vollzogen.
Die angekündigte neue Partnerschaft mit Afrika steht noch aus
Die Zusammenarbeit mit den Ländern Afrikas spielte für das BMZ und die Bundesregierung eine herausgehobene Rolle. 2017 veröffentliche das BMZ seinen Marshallplan mit Afrika. Damit verbunden war das Ziel, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 Impulse für eine gleichberechtigte Partnerschaft zu setzen. Bisher konnte dieser Anspruch nicht in die Tat umgesetzt werden. Dazu fehlen nicht zuletzt die dringend erforderlichen Konsultationen sowohl mit den afrikanischen Partnerregierungen als auch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen von beiden Kontinenten. Um der Partnerschaft eine neue Dynamik zu geben, ist eine gemeinsame Agenda und Strategie notwendig, die den Interessen der Gesellschaften beider Kontinente gerecht wird. Bisher ist die Zusammenarbeit zu stark auf die Wirtschaft ausgerichtet und darauf, afrikanische Migrant_innen aus Europa fernzuhalten.
Entwicklungszusammenarbeit im Spannungsfeld von Fluchtursachenbekämpfung und Migrationsabwehr
2015 und 2016 stand das Thema Flucht und Migration infolge der hohen Migrationsbewegungen nach Europa ganz oben auf der politischen Agenda. Das Augenmerk der Bundesregierung aber auch die aufgelegten Programme im BMZ konzentrierten sich auf die Themen Rückkehr, Migrations- und Grenzmanagement. Das Schlagwort der „Fluchtursachenbekämpfung“ bekam einen negativen Beigeschmack, denn viele Maßnahmen schienen sich eher auf die Bekämpfung der Fluchtbewegungen, statt auf deren Ursachen zu fokussieren. Die Entwicklungszusammenarbeit war in Gefahr, von Konzepten der Migrationssteuerung vereinnahmt zu werden. Minister Müller nutzte das Thema geschickt, um die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit zu unterstreichen. Er konnte jedoch nicht immer ausreichend klarstellen, dass es bei der Entwicklungszusammenarbeit darum geht, Menschen bessere Lebensbedingungen und Perspektiven für ihre Zukunft zu schaffen, und nicht darum, Migration nach Europa zu stoppen. Die 2019 von der Bundesregierung eingesetzte Fachkommission Fluchtursachen legte in ihrem Abschlussbericht im Mai 2021 Empfehlungen vor, die eine gute Orientierung für die Gestaltung kohärenter Politikansätze in der nächsten Legislaturperiode bieten.
Steht die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit noch im Zentrum der Entwicklungspolitik?
Im Rahmen seiner Reformstrategie „BMZ 2030“ hat das Entwicklungsministerium die Anzahl der Partnerländer reduziert. Auch viele der am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) sind künftig keine Partnerländer der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mehr. Das BMZ will die bilaterale Zusammenarbeit in „Reformpartnerschaften“ auf solche Länder
konzentrieren, die gezielt Reformen zu guter Regierungsführung umsetzen, Menschenrechte wahren und Korruption bekämpfen. Das BMZ nutzt das Instrument der „Reformpartnerschaften“ auch mit dem Ziel, die Rahmenbedingungen für privatwirtschaftliches Engagement zu verbessern.
Damit besteht die Gefahr, dass sich die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit zu stark auf die Förderung von Investitionen konzentriert und die Armutsbekämpfung sowie die soziale Entwicklung vernachlässigt. Die Menschen in den ärmsten und fragilsten Ländern, die in besonderem Maße auf internationale Solidarität und Unterstützung angewiesen sind, dürfen nicht vergessen werden. Hierauf weist auch der Entwicklungsausschuss der OECD in seinem aktuellen Peer Review hin, in dem er Deutschland empfiehlt, seine Instrumente der bilateralen Zusammenarbeit stärker auf das Prinzip „Leave no one behind“ auszurichten.
Der Bericht bestätigt auch die langjährige Kritik VENROs, dass das BMZ bisher nicht genug dafür tut, damit seine Maßnahmen konsequent zur Gleichberechtigung der Geschlechter und der Stärkung von Frauenrechten beitragen. Der 2020 ausgelaufene zweite Gender-Aktionsplan (GAP II) war zwar inhaltlich ambitioniert, jedoch nicht ausreichend finanziert. Momentan findet eine Evaluation statt, die mangels Indikatoren nicht befriedigend möglich ist.
Im Dezember 2019 veröffentlichte das BMZ seine Inklusionsstrategie. Darin wurden die zentralen Empfehlungen der „Evaluierung des Aktionsplans zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen“ des DEval nicht berücksichtigt. Das DEval hatte unter anderem festgestellt, dass „der Mangel an disaggregierten Daten zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen einen wichtigen hemmenden Faktor“ darstellt. Das Institut empfahl dem BMZ, diese Leerstelle zu schließen und einen Umsetzungsplan vorzulegen.
In der im Frühjahr 2020 veröffentlichten Strategie „BMZ 2030“ wurde angekündigt, dass die bilaterale Zusammenarbeit auf fünf Kernthemen reduziert werden soll. Wichtige Themen wie Gesundheit gehören demnach nicht mehr dazu und zentrale Ziele der Agenda 2030 wie Armutsbekämpfung, Geschlechtergerechtigkeit, Inklusion und Menschenrechte sind lediglich als Qualitätsmerkmale definiert. Kinderrechte werden gar nicht explizit be-
nannt.
Finanzierung: das Erreichen eines 50 Jahre alten Versprechens
Zwischen 2013 und 2021 hat sich der BMZ-Haushalt von 6,3 auf 12,43 Milliarden Euro verdoppelt. Dieser Anstieg ist ein großer Erfolg, denn Deutschland rückt damit dicht an sein vor 50 Jahren gemachtes Versprechen heran, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Diese Quote wurde nur in den Jahren 2016 und 2020 erreicht.
Die Bundesregierung hat in der Corona-Pandemie schnell reagiert und für ein Corona-Sofort-Programm zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt. Die mittelfristige Finanzplanung für die Jahre ab 2023 sieht allerdings drastische Rückgänge für den BMZ Etat vor, während zum Beispiel der Verteidigungsetat dauerhaft fortgeschrieben wird.
Notwendige Zuwächse gab es in der aktuellen Legislaturperiode im Titel Private Träger. Andere Fördertitel sind jedoch in den vergangenen Jahren kaum gewachsen. Nur mit einem konsequenten Aufwuchs in den zivilgesellschaftlichen Titeln kann das selbstgesteckte Ziel des BMZ, die Rolle und Teilhabe zivilgesellschaftlicher Akteur_innen in der Entwicklungszusammenarbeit weiter auszubauen, erreicht werden. Die Förderung der Zivilgesellschaft sollte perspektivisch einen Anteil von mindestens 20 Prozent des BMZ-Etats erreichen. Auch der Entwicklungsausschuss der OECD empfiehlt im diesjährige Peer Review Deutschland, seine Förderung auszubauen und bürokratische Hürden abzubauen. Letzteres ist ebenfalls eine langjährige Forderung von VENRO. Mit Unterstützung aus dem Parlament konnten wir im Jahr 2021 endlich einen Prozess anstoßen, um die Förderung der Privaten Träger zu reformieren.
Aufgaben für die nächste Bundesregierung
Entwicklungszusammenarbeit ist ein zentraler Baustein der internationalen Politik Deutschlands. Auch in der nächsten Legislaturperiode braucht es dafür ein starkes und eigenständiges BMZ, vor allem aber eine Bundesregierung, die die Umsetzung der Agenda 2030 zum Leitbild aller Ressorts macht. Aus der hier vorgenommenen Bilanz ergeben sich bereits einige wichtige Vorhaben für die nächste Bundesregierung:
- Mit einer kohärenten Politik müssen alle Ressorts der Bundesregierung zu nachhaltiger Entwicklung weltweit beitragen. Um die Effekte, die die deutsche Politik auf andere Länder hat, besser beobachten und verändern zu können, müssen die Indikatoren der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie globaler ausgerichtet werden.
- Das Ziel, 0,7 Prozent für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) bereitzustellen, muss in den nächsten Jahren wieder erreicht werden. Dabei muss sichergestellt werden, dass die ODA-Ausgaben auch in der mittelfristigen Finanzplanung nicht unter das Niveau von 2021 fallen. Zusätzlich sind die Mittel für Klimaschutz und -anpassung in Ländern mit niedrigem Einkommen bis 2025 auf acht Milliarden Euro jährlich zu steigern.
- Angesichts der gesunkenen Zahl am wenigsten entwickelter Länder (LDCs) auf der Liste der deutschen Partnerländer ist es wichtig, dass Deutschland seiner Verpflichtung gerecht wird, 0,15 bis 0,2 Prozent der Entwicklungsgelder in LDCs zu investieren.
- Ein neuer Gender-Aktionsplan muss verfasst werden, der Indikatoren, Meilensteine, ausreichende Finanzierung und zivilgesellschaftliche Beteiligung beinhaltet.
- Es muss eine kohärente, auf die Erreichung von Kinderrechte abzielende Gesamtstrategie entwickelt werden, die als Grundlage der deutschen Entwicklungspolitik dient.
- Neben der weiteren Unterstützung internationaler Gesundheitsorganisationen muss die Bundesregierung die Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie einen gerechten Zugang zu Diagnostika, Impfstoffen und Medikamenten im globalen Süden fördern, etwa durch Änderungen im Patentrecht zwecks schneller Bereitstellung von Generika in Krisensituationen.
- Das Lieferkettengesetz muss konsequent umgesetzt werden. Auch auf europäischer und UN-Ebene sind verbindliche Regelungen erforderlich.
- Im Vorfeld des nächsten Gipfels zwischen der Afrikanischen und Europäischen Union sollten
intensive Konsultationen auf zivilgesellschaftlicher und staatlicher Ebene erfolgen. Dafür
sollte sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene stark machen. - Die Empfehlungen der Kommission für Fluchtursachen sollten konsequent umgesetzt werden.
- Zivilgesellschaftliche Organisationen benötigen mehr finanzielle Unterstützung und weniger Bürokratie in den Förderbedingungen.
Quelle: Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen e. V. (VENRO), 06.09.2021