Am ersten August meldete Vietnams Gesundheitsministerium fast 8.600 lokale Covid-19 Infektionen. Seit Beginn der vierten Welle am 27. April 2021 verzeichnet Vietnam 150.474 Fälle in den Kommunen – in 62 von 63 Städten und Provinzen des Landes. Im Vergleich dazu verzeichnete das Land nur 106 lokale Fälle in der ersten Wellen vom 23. Januar bis zum 16. April 2020. Nur 554 waren es in der zweiten Welle vom 25. Juli bis ersten Dezember 2020. Und in der dritten Welle vom 28. Januar bis 25. März 2021 kam es zu 910 lokalen Infektionen. Bis zum Ende der dritten Welle verzeichnete Vietnam 35 Tote. Nun in der vierten Welle sind die Todesfälle auf 1.306 gestiegen.
Seit Beginn der Impfkampagne am 8. März 2021 sind 6,2 Mio. Impfungen an medizinisches Personal, Lehrpersonal, Fabrikarbeiter*innen und andere systemrelevante Berufsgruppen sowie an Senior*innen verabreicht worden. Beinahe 621.000 Personen sind vollständig geimpft.
Was bedeutet eine globale Impfgerechtigkeit in Zeiten der vierten Welle?
Die Situation in Vietnam spitzt sich im Zusammenhang mit der vierten Welle der Covid-19-Pandemie besonders in der Neun-Millionen-Metropole Ho Chin Minh Stadt (HCMC) zu. Die Delta Variante ist nicht wirklich mit den in den vorherigen Wellen so erfolgreich angewandten Maßnahmen einzudämmen. Gleichzeitig nimmt die Impfkampagne, die am 8. März offiziell begonnen hat, nur schleppend Fahrt auf.
Die vietnamesische Regierung kämpft auf dem Markt um Impfstoff. Sie ist überwiegend abhängig von sporadischen COVAX-Lieferungen, muss jedoch monatelang mit BiontecPfizer verhandeln. Mit Japan und Russland hat Vietnam Sponsoren und Partner für den Technologie-Transfer gefunden und steht nun mit eigenen Impfstoffen in der letzten Testphase. Alles zielt darauf ab, bis April 2022 in diesem 98 Millionen Menschen zählenden Staat mit einer Impfrate von 70 % Herdenimmunität zu erreichen, wobei dieser Termin schon um ein Quartal verschoben wurde.
Daneben zeigt sich die Regierung großzügiger als viele andere Länder in Bezug auf die Einbeziehung ausländischer Mitmenschen in die Impfkampagne. Vietnam wurde im Juni von den UN für die Aufnahme eines erkrankten Mitarbeiters aus einem Land in der Region gedankt und für die großzügige Impfung von 600 Mitarbeiter*innen des diplomatischen Corps gelobt. Auch 50 Medienleute erhielten ihre Impfung als Zeichen der Gastfreundschaft.
Deutsche Impfpolitik wirkt fragwürdig
Die Impfpolitik der deutschen Regierung dagegen wirkt für die deutsche Diaspora in aller Welt angesichts der sich ändernden Lage zunehmend fragwürdig. Das wird besonders in Vietnam deutlich. Bis heute zieht sich das Auswärtige Amt (AA) auf die Position zurück, dass im EU-Einvernehmen COVAX finanziell unterstützt wird. Deutsche in Vietnam, die in der Bundesrepublik versichert sind, sollen nach Hause reisen und dort ihren Impfanspruch geltend machen. Nicht nur die German Business Association kommt, wie in einem Artikel der FAZ (24.7.21) und im Handelsblatt (28.7.21) beschrieben, zu dem Schluss, dass die Empfehlung des AA, nach Hause zu fliegen, völlig unrealistisch ist.
Die bisher zurückhaltende deutsche Politik zielt darauf ab, dass auf keinen Fall die knappen Ressourcen, die durch COVAX in die Länder kommen, durch reiche Europäer abgezogen werden dürfen. Dies kann durchaus nachvollzogen und unterstützt werden. Gerade deshalb ist es aber bei anlaufenden Impfkampagnen in den Ländern des globalen Südens und einem Wettlauf mit der Zeit dringend nötig, dass die Gesundheitssysteme und Budgets ärmerer Länder nicht noch durch ihre Großzügigkeit belastet werden, damit ihnen Luft bleibt für die Impfung der vulnerablen Bevölkerungsgruppen. Ist also die Einzahlung in den COVAX-Fonds zur jetzigen Zeit, in der in Europa Impfmüdigkeit und Impfstoffüberfluss herrscht, genug?
EU-abgestimmte Strategie oder nationale Initiativen?
Wie soll man angesichts der angeblichen EU-abgestimmten Pandemiebekämpfungsstrategie einordnen, dass die französische Regierung ihren Staatsbürger*innen ein Geschenk zum Nationalfeiertag am 14. Juli 2021 gemacht hat – nämlich die Impfung für sie und alle Angehörigen? Sollte man nicht als EU gemeinschaftlich voranschreiten und zur Entlastung der vietnamesischen und anderen Regierungen, der Behörden und der Gesundheitssysteme der Gastländer die Impfung der EU-Bürgerinnen und Bürger übernehmen – so wie die Franzosen für ihre Landsleute in Vietnam es vormachen? Die Anfrage beim französischen Konsulat in Ho Chin Minh Stadt, ob bei Impfstoffüberschuss auch andere EU- Bürger*innen sich in die Impfschlange einreihen könnten, wurde höflich, aber klar abgelehnt. Zumindest wurde zugestanden, dass diese Anfrage berechtigt sei.
Aus leidvoller eigener Erfahrung in Europa weiß man, wie schwierig es ist, Impfkampagnen effizient und gerecht zu organisieren und den Schutz der Bevölkerung sicherzustellen. Die Maßnahmen in Vietnam folgen der eigenen Logik der Regierungsführung. So war man in den ersten drei Wellen sehr erfolgreich mit der Eindämmung und gewann internationale Anerkennung. Nun hat sich das Blatt dramatisch gewendet und der anfängliche Erfolg wird zu einer Belastung. Die Regierung hat noch zu Beginn des Jahres auf die Herstellung eigener Impfstoffe gesetzt und sich nur zurückhaltend um den Einkauf von Impfdosen gekümmert. Ausländer*innen werden nun zu einer logistischen und finanziellen Belastung der hiesigen Gesundheitssysteme, wenn sie sich in die einheimischen Listen eintragen – so, wie es ihnen in Vietnam dankenswerter Weise angeboten wird.
Handelsbeziehungen stärken durch Impfsolidarität
Im Sinne einer politischen Kohärenz ist es doch im Interesse der EU und ihrer Handelsabkommen (etwa mit Vietnam, aber auch den AKP-Staaten), wenn durch die Impfsolidarität die vielen Produktions- und Handelsbeziehungen, die durch europäische Unternehmen hier entstanden sind, nicht belastet, sondern gefördert werden. Dazu gehört auch der Schutz aller, die in den internationalen Lieferketten ihren Beitrag leisten. Unternehmen aus Deutschland sind bereit, auch ihre Mitarbeitenden zu impfen, denn es ist im wirtschaftlichen Interesse, dass das Produktionsleben schnell wieder zur Normalität zurückkehrt. In Vietnam bedeutet dies, dass nur so vermieden werden kann, dass Arbeiter*innen am Arbeitsplatz nun wohnen müssen, wie seit mehreren Wochen in den Industriezonen von HCMC und den südlichen Provinzen der Fall ist.
Impfgerechtigkeit umfasst nicht nur die Sicherstellung des Zugangs zu Impfdosen, den notwendigen Technologietransfer und das Verhindern der Übervorteilung ärmerer Staaten durch einen unkontrollierten Markt. Sie umfasst auch die vorausschauende und solidarische Entlastung der Länder angesichts der vielen Fachkräfte, Geschäftsleute und Privatleute aus den Ländern im Überfluss, die in wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und sozialen Kontexten in Ländern des Mangels arbeiten und leben. Insofern sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass diejenigen, die haben, nicht denjenigen, die nicht haben, zur Last fallen und sich darüber hinaus um die kümmern, die für den eigenen Wohlstand der Habenden arbeiten.
Die Pandemie ist erst dann bekämpft, wenn die weltweite Bevölkerung die Herdenimmunität erreicht hat. Die Ungleichheit nun in der Erreichung der partiellen Immunität verstärkt die wirtschaftliche Ungleichheit auf viele Jahre hin. Interessant, dass privatwirtschaftliche Akteure dies im Gegensatz zur Politik im Blick haben.
Dr. Hildegard Hagemann, Kolping Vietnam/Kolping international, Vorstandsmitglied Südwind-Institut e.V., momentan als Fachkraft der Entwicklungszusammenarbeit in HCMC
Quelle: SÜDWIND e.V., Dr. Hildegard Hagemann, 02.08.2021