VENRO | Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft: Der Globale Süden kam zu kurz

Brexit, EU-Haushalt, Klimaschutz, Migration – selbst ohne die Corona-Pandemie wäre die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020 sehr herausfordernd geworden. Daher ist es verständlich, dass die Bundesregierung nicht alle an sie gerichteten Erwartungen erfüllen konnte. Enttäuschend ist jedoch, dass die von Bundeskanzlerin Merkel angekündigten Schwerpunkte Afrika-EU-Beziehungen und globale Verantwortung eindeutig zu kurz gekommen sind.

Deutschlands 13. EU-Ratspräsidentschaft wurde natürlich von der Corona-Krise bestimmt. Die vielen Vereinbarungen „in letzter Minute“ haben gezeigt, dass die Suche nach Kompromissen dieses Mal besonders schwierig war. Vor diesem Hintergrund war es wichtig, dass sich die EU-Institutionen und die Mitgliedsstaaten auf den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) und den Aufbauplan „Next Generation EU“ geeinigt haben und somit eine tiefe Krise der EU vermieden wurde.

Aus Sicht der Bundesregierung ist die EU auch bei anderen Themen entscheidend vorangekommen, weil sie „nach innen solidarisch und nach außen geschlossen agiert“ habe. Für die Länder im Globalen Süden hat die europäische Geschlossenheit allerdings wenig bewirkt. Zwar wurde wiederholt mehr globale Solidarität in der Corona-Pandemie beschworen, aber weder die Ausgestaltung des MFR noch die EU-Klimapolitik, die Afrika-EU-Beziehungen oder das Post-Cotonou-Abkommen waren von einem besonders partnerschaftlichen Geist beseelt.

MFR 2021-2027 und „Next Generation EU“

Beim EU-Haushalt ist positiv zu bewerten, dass eine Einigung auf das Finanzierungsinstrument „Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Zusammenarbeit“ (NDICI) erzielt und mit einem klaren Bekenntnis zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung, zum Klimaschutz und zur Gleichstellung der Geschlechter verknüpft wurde. Die Festlegung, dass 93 Prozent des NDICI-Budgets für offizielle Entwicklungszusammenarbeit (ODA) verwendet werden sollen, ist ein wichtiges Element einer verlässlichen europäischen Entwicklungspolitik.

Über diese erwartbaren Grundlagen hinaus ist wenig Solidarität mit dem Globalen Süden zu erkennen. Da die NDICI-Mittel nur moderat steigen, stellt sich die Frage, wie die EU ihre Partnerländer bei der Bewältigung der gravierenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie unterstützen will. Zusagen für vereinzelte Initiativen wie die Impfstoffallianz COVAX sind kein Ersatz für verbindliche Festlegungen im MFR. Es gibt weder eine zusätzliche Finanzierung über „Next Generation EU“ noch einen Aktionsplan für den Zugang zu Impfstoffen, Medikamenten und medizinischer Behandlung in den am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs).

Kritisch zu bewerten ist auch die zunehmende Kopplung von NDICI-Ausgaben an Migrationssteuerung und Sicherheitsfragen. Gleichzeitig fehlt es im MFR und im Aufbauplan an überprüfbaren Kriterien, um gerechtes und nachhaltiges Wirtschaften und den Schutz der Menschenrechte besser miteinander zu verbinden. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat hierbei die Chance verpasst, die Diskussionen über ein europäisches Lieferkettengesetz energisch voranzubringen.

EU-Klimapolitik

Beim Klimaschutz wurde unter anderem festgelegt, dass die EU ihre CO2-Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 senken und bis 2050 klimaneutral werden will. Zudem sollen in den kommenden sieben Jahren mindestens 30 Prozent der EU-Ausgaben für den Klimaschutz eingesetzt und diese und andere Ziele in einem EU-Klimagesetz festgeschrieben werden. Es ist gut, dass sich die EU in Richtung einer ambitionierten Klimapolitik aufgemacht hat. Doch die Vereinbarungen reichen nicht aus, sie bewegen sich erneut am unteren Ende des Möglichen und Notwendigen. Weitergehende Maßnahmen – wie etwa vom EU-Parlament vorgelegt – scheiterten an verhärteten nationalen Positionen. Auch der „Climate Ambition Summit“ der Vereinten Nationen im Dezember anlässlich des fünften Jahrestags des Pariser Klimaabkommens brachte keine wesentlichen Fortschritte. Insgesamt konnte die Bundesregierung das Zusammentreffen von Corona-, Klima- und Wirtschaftskrise nicht nutzen, um die EU-Mitgliedsstaaten von der Dringlichkeit mutiger Schritte in der Klimapolitik zu überzeugen. Die Forderungen nach mehr Klimagerechtigkeit, ausreichender Klimafinanzierung und schnellstmöglicher Klimaneutralität bleiben daher hochaktuell.

Afrika-EU-Beziehungen

Laut Bundeskanzlerin Merkel sollte Afrika als „Kontinent der Zukunft“ einer der Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft werden. Für Mitte Oktober war die Ausrichtung des AU-EU-Gipfels vorgesehen, um eine gemeinsame Afrika-EU-Strategie zu verabschieden und – angesichts von Corona-Pandemie und Klimakrise – koordinierte multilaterale Initiativen voranzubringen. Sowohl dieses Treffen als auch eine für Anfang Dezember geplante Videokonferenz ausgewählter Regierungschef_innen und der Spitzen von AU- und EU-Kommission wurden sehr kurzfristig und ohne Angabe von Gründen abgesagt. Bezeichnend ist, dass der vorgesehene Afrika-EU-Schwerpunkt in der Bilanz der Bundesregierung mit keinem Wort erwähnt wird. Die Ergebnisse des virtuellen EU-China-Treffens und die strategische Partnerschaft mit dem Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) werden hingegen ausdrücklich hervorgehoben.

VENRO und seine Partner_innen haben mit dem Digital Africa Forum (Mai) und der Afrika-Europa-Konferenz „Civil Society Driving Change“ (Oktober) gezeigt, dass eine enge Zusammenarbeit trotz der Corona-Einschränkungen möglich war. Mehr als 500 Teilnehmer_innen aus Afrika und Europa haben deutlich gemacht, dass die Zivilgesellschaften auf beiden Kontinenten wichtige Beiträge zu einer lebendigen AU-EU-Partnerschaft leisten wollen und können. Deshalb werden wir die Entscheidungsträger_innen auf beiden Seiten auch in den kommenden Monaten daran erinnern, dass es für echte partnerschaftliche Beziehungen eine breite Beteiligung braucht.

Post-Cotonou-Abkommen

Anfang Dezember einigten sich die EU und die Organisation Afrikanischer, Karibischer und Pazifischer Staaten (OACPS) wenige Wochen vor dem Auslaufen des zwanzig Jahre alten Cotonou-Abkommens auf eine politische Übereinkunft zur Fortführung ihrer Zusammenarbeit. Die Einigung muss in den kommenden Monaten von den Vertragsstaaten und Institutionen wie dem Europäischen Parlament bestätigt werden. Daher wurde die Gültigkeit des Cotonou-Abkommens bis zum 30. November 2021 verlängert. Die EU bewertet die Vereinbarung als „Schritt in eine neue Ära“, doch letztlich verharren die Beziehungen trotz jahrelanger Verhandlungen in nicht mehr zeitgemäßen Strukturen. Statt einer neuen Partnerschaft mit klarem Bezug zur Agenda 2030 überwiegen kleinteilige Interessen und Detailvereinbarungen in Handelsfragen. Die Querverbindungen zur EU-Afrika-Strategie und zur Anfang 2021 in Kraft getretenen Freihandelszone zwischen den 54 AU-Mitgliedsstaaten (AfCFTA) bleiben vage und müssen noch erarbeitet werden. Auch in Bereichen wie Gesundheit, Ernährung, Landwirtschaft oder Migration fehlt es an Kooperationsformen, die menschliche Entwicklung in den Mittelpunkt stellen.

Aus entwicklungspolitischer Perspektive ergibt sich somit ein insgesamt ernüchterndes Fazit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Die Bundesregierung hat nicht verhindert, dass das Bekenntnis zu globaler Solidarität und Verantwortung größtenteils durch die Durchsetzung nationaler und europäischer Eigeninteressen entwertet wurde. Die faire und gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Afrika und Europa ist ebenso aus dem Blickfeld geraten wie eine humane Migrationspolitik und der Schutz von Geflüchteten. „Niemanden zurücklassen“ bleibt daher als zentrale Forderung an und Aufgabe für die europäische Politik ganz oben auf der Agenda.

Weitere Informationen

Quelle: Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V. (VENRO), Mathias Mogge, 01.02.2021