DIE: die aktuelle Kolumne | Wie ernst nimmt die EU Werte und Normen bei Handelsabkommen?

Während offener Protektionismus im Welthandel wieder salonfähig wird, erscheint internationale Kooperation wichtiger denn je. So verweist nicht zuletzt die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung auf die positiven Handels- und Entwicklungseffekte eines verlässlichen und offenen Handelsregimes für die Länder des globalen Südens. Die Europäische Union (EU) tritt dabei als Verfechterin regelbasierter Handelsbeziehungen und liberalisierter Märkte auf und versteht sich gerne auch als Exporteurin von Werten und Normen. Dass Spannungen bei diesen unterschiedlichen Prinzipien der europäischen Handelspolitik nicht ausbleiben, zeigen die beiden jüngsten Verhandlungserfolge der EU mit dem Mercosur und Vietnam.

Ein Rückblick: Der Juni 2019 war für die europäische Handelspolitik ein überaus erfolgreicher Monat. Ungeachtet des bereits schwelenden Handelskonflikts mit den USA konnte die EU gleich zwei Handelsabkommen feierlich verkünden. Doch während das EU-Vietnam-Freihandelsabkommen (EVFTA) – nach der kürzlich erfolgten erfolgreichen Abstimmung im Europäischen Parlament – voraussichtlich bereits in diesem Jahr in Kraft tritt, droht der Ratifizierung des EU-Mercosur-Abkommens eine Hängepartie. Dabei scheinen der EU einseitige wirtschaftliche Interessen weit wichtiger als klare Kante bei Werten und Normen.

Das EU-Mercosur-Abkommen zieht seit jeher den Argwohn europäischer Landwirirtschaftsverbände auf sich. Denn obwohl die EU vom neuen Handelsabkommen gesamtwirtschaftlich profitieren würde, sieht sich die heimische Agrarindustrie im Zuge vereinbarter Zollsenkungen steigendem Wettbewerbsdruck, insbesondere aus Brasilien, ausgesetzt. Dieser Sorge wird durch Kritik an den laschen Umweltstandards des größten Mercosur-Landes, zum Beispiel im Bereich der Pestizidnutzung, Rechnung getragen. Die verheerenden Amazonas-Brände des letzten Jahres befeuerten zudem den Vorwurf, Brasilien würde mit den Pariser Klimaschutzzielen sowie dem Schutz seiner indigenen Urbevölkerung brechen, um die Nutzbarmachung von Landflächen für die Steigerung von Agrarexporten zu ermöglichen.

Bereits mehrere EU-Mitgliedsländer, allen voran Frankreich, haben ihre (neuerliche) Ablehnung für die noch ausstehende Ratifizierung des Mercosur-Abkommens durch den Europäischen Rat angekündigt. Es bleibt jedoch unklar, ob hier ehrliche Sorge um Umweltschutz und Menschenrechte oder der Schutz wirtschaftlicher Interessen die Triebfedern sind. So drängt sich der Eindruck auf, dass hier aufgrund befürchteter wirtschaftlicher Einbußen in einem wichtigen, durch eine starke Lobby vertretenen Wirtschaftszweig, dankbar auf den Zug der Umwelt- und Klimaschutzbewegung aufgesprungen wurde. Da bereits einzelne Mitgliedsländer die endgültige Ratifizierung von EU-Handelsabkommen blockieren können, droht dem EU-Mercosur-Abkommen damit voraussichtlich eine Totgeburt.

Auch EVFTA ist keineswegs unumstritten. So beklagen Nichtregierungsorganisationen das repressive System in dem kommunistischen Ein-Parteien-Staat Vietnam. Amnesty International verweist immer wieder auf Todesstrafen, Folter und politisch Inhaftierte in dem südostasiatischen Land. Diese Eigenschaften des Handelspartners schweigt die EU zwar nicht gänzlich tot, sondern versucht sie mit der Aufnahme von Sozialstandards in das EVFTA-Vertragswerk zu verbessern. Damit hofft sie allerdings eher auf die Möglichkeit einer positiven Beeinflussung nach Inkrafttreten des Handelsabkommens. Eine Option, die zweifelsfrei auch im EU-Mercosur-Abkommen besteht, in dem sich beide Seiten zur Umsetzung des Pariser Abkommens verpflichten.

Doch anders als die chronisch rezessionsanfälligen Mercosur-Länder ist Vietnam eine pulsierende, aufstrebende Volkswirtschaft. Dem Land wird ein hohes Wachstumspotenzial prognostiziert. Entsprechend gilt es als lukrativer zukünftiger Absatzmarkt. Zudem hat Vietnam bereits Handelsabkommen mit China, Japan, Südkorea und den USA abgeschlossen. In Anbetracht der Bedeutung globaler Wertschöpfungsketten möchte die EU hier nicht von einem wichtigen Bindeglied ausgeschlossen werden. So exportiert Vietnam hauptsächlich Telefone und entsprechendes Zubehör, Schuhwaren oder Textilien in die EU. Allesamt Güter, von denen, anders als brasilianische Agrarprodukte, kaum großflächige Gefahr für einen europäischen Wirtschaftszweig ausgeht. EVFTA liest sich deshalb als Teil einer größer angelegten geopolitischen Strategie der EU. Es ist ein erster Schritt in ihren Integrationsbestrebungen mit dem gesamten wirtschaftlich bedeutenden südostasiatischen Raum.

Es bleibt der Eindruck, dass die EU bei ihren jüngst unterzeichneten Handelsabkommen einen (in)konsistenten Schlingerkurs fährt. Während das EU-Mercosur-Abkommen aufgrund vordergründig angeführter Zweifel an den Umwelt- und Klimaschutzbemühungen Brasiliens in letzter Instanz zu scheitern droht, ratifiziert das Europäische Parlament im gleichen Atemzug ein Freihandelsabkommen mit dem von einer umstrittenen Menschenrechtslage geprägten Vietnam. Möchte sich die EU als Hüterin von Werten und Normen international positionieren, müsste sie diese jedoch rigoroser in all ihren Handelsbeziehungen zum gleichen Maßstab nehmen. Das hieße in überspitzter Konsequenz: Wenn kein Handelsabkommen mit dem Mercosur abgeschlossen wird, dann auch nicht mit Vietnam. Allerdings gilt augenscheinlich für EU-Handelsabkommen mehr denn je der Leitsatz des US-amerikanischen Politikberaters James Carville: „It’s the economy, stupid“.

Mehr Informationen

Quelle: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne von Frederik Stender, 16.03.2020