Heinrich Böll Stiftung | Urbaner Raum: Von der autogerechten zur lebenswerten Stadt

Um den Verkehr menschenfreundlicher zu gestalten, müssen Straßen und Plätze anders genutzt werden. Ein neues Stichwort in der Debatte ist „Flächengerechtigkeit“. Einige Großstädte zeigen bereits, wie sie geht.

Ein wichtiger Grund, warum sich immer mehr Menschen für eine Verkehrswende in den Städten einsetzen, ist die sogenannte Flächengerechtigkeit. Das Auto braucht auf den Straßen auf Kosten anderer Verkehrsmittel zu viel Platz. So wird es immer weniger selbstverständlich, dass wertvoller öffentlicher Raum von Massen privater Fahrzeuge zugestellt wird. Das Leitbild der autogerechten Stadt ist nicht zukunftsfähig.

Wie konnte sich dieses Leitbild durchsetzen? Automobilisierung ist eine globale Begleiterscheinung der Industrialisierung und des zunehmenden Wohlstandes. Als Massenphänomen begann sie in den westlichen Industrienationen, so auch in Deutschland, nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Folge: Städte sollten so gestaltet sein, dass der motorisierte Individualverkehr stetig fließen und das Auto zum schnellsten Verkehrsmittel werden konnte.

Zum Leitbild der Planung wurde die „funktionelle Stadt“. In ihr sollten Arbeit und Wohnen voneinander getrennt sein, weil die Industrie noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts oft der Gesundheit schadete und die Umwelt verschmutzte. Zudem waren die Innenstädte dicht bevölkert, die Wohnbedingungen in den Altbauten schlecht. Besonders in den kriegszerstörten deutschen Innenstädten lockten die Möglichkeiten, den Verkehr neu zu lenken. Die Straßenverkehrsordnung von 1953 drückte die Prioritäten der Zeit aus: Sie stellte das Auto ins Zentrum und ordnete ihm in den Städten fast alle anderen Verkehrsformen unter.

Die „autogerechte Stadt“ versprach Mobilität und löste dieses Versprechen zunächst auch ein. Gleichzeitig bezeugte der individualisierte Autoverkehr auch den zunehmenden Wohlstand. Der Autoverkehr in den Städten stieg weiter, es mussten mehr Straßen gebaut werden … So stieß das Konzept an seine Grenzen.

Zu einem konkurrierenden, aber weniger wirkungsvollen Leitbild wurde seit den 1990er-Jahren in Deutschland die „Stadt der kurzen Wege“, verbunden mit der
Idee der „Nahmobilität“: Die Menschen sollten im Alltag mehr mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs sein können. Dafür mussten und müssen die Nutzungsformen „Wohnen“ und „Arbeiten“ wieder stärker gemischt werden, auch in Neubaugebieten. Nötig wurde und wird zudem eine gute Anbindung durch den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), um Fahrten mit dem eigenen Auto unnötig zu machen.

Und langsam werden Planungsphilosophien wie die der „Städte für Menschen“ des Dänen Jan Gehl auch hierzulande populär. Gehl zufolge muss eine Stadt genug Platz für Begegnungen bieten und der Verkehr ein Tempo haben, das dem Menschen entspricht. Zwar sind die europäischen Städte im Wesentlichen fertig gebaut. Die Straßen lassen sich dennoch umgestalten zugunsten nicht motorisierter Verkehrsarten, wenn etwa die vielen Parkplätze wegfallen.

Die Entwicklung der dänischen Hauptstadt Kopenhagen ist stark von dieser Philosophie beeinflusst. Weltbekannt geworden ist Kopenhagen für seine vorbildliche Fahrradinfrastruktur. Die Radwege sind breit, die grüne Welle ist auf Fahrradgeschwindigkeit eingestellt, es gibt Radschnellwege und Fahrradbrücken. Wer dort wohnt, kann die meisten täglichen Wege am schnellsten mit dem Fahrrad zurücklegen. Das Rad gilt inzwischen in Kopenhagen als Hauptverkehrsmittel. Sein Anteil lag 2017 bei 41 Prozent der beruflichen und 29 Prozent aller Wege.

Auch in Wien nimmt die „Stadt für Menschen“ Gestalt an. Das Parken wurde für die Anwohnerinnen und Anwohner teurer, so wurde Platz geschaffen. Die Einnahmen flossen in den Ausbau des ÖPNV. Dies und ein preiswertes Jahresticket für 365 Euro, das in Bussen und Bahnen gilt, haben seit 2012 die Anzahl dieser Dauerkarten mehr als verdoppelt. Inzwischen gibt es von ihnen mehr als Autos. Auf manchen Parkplätzen entstanden kleine Stadtoasen mit Sitzgelegenheiten und Begrünung. Wien schaffte es 2019 auch dank seiner Verkehrspolitik an die Spitze zweier internationaler Städterankings zur urbanen Lebensqualität. Zum zehnten Mal in Folge siegte Wien im weltweiten „Mercer Quality of City Ranking“, zum zweiten Mal hintereinander im „Global Liveability Index“ der Denkfabrik Economist Intelligence Unit.

Moderne Städte bieten Mobilität ohne eigenes Auto, indem sie die Verkehrsmittel intelligent miteinander verknüpfen. Die „lebenswerte Stadt“ ist auch in Deutschland zu einem wichtigen Leitbild geworden. Dazu müssen die Infrastrukturen für das Fahrrad verbessert, die Straßen umgebaut und der Parkraum anders bewirtschaftet werden.

Hinzu kommen Begegnungszonen in verkehrsberuhigten Gebieten, in denen Fußgänger Vorrang haben, ebenso wie „shared spaces“, also Straßenraum, in dem sich die Verkehrsteilnehmenden gleichberechtigt begegnen.
Experimente gibt es viele. Bis allerdings das Planungsleitbild „lebenswerte Stadt“ die immer noch überwiegend autogerechte Stadt abgelöst hat, bedarf es noch jeder Menge Aktionen von Bürgerinitiativen, einer mutigen Kommunalpolitik und der Unterstützung durch Bund und Länder.

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Quelle: Heinrich Böll Stiftung, 05.11.2019