Am 25. September 2017 stimmten nach Angaben der Regionalregierung in Erbil 90 Prozent der Kurdinnen und Kurden beim Referendum für die Unabhängigkeit. Die Autorinnen von BICC Policy Brief 8\2017 Carina Schlüsing und Katja Mielke sehen Anzeichen für eine weitere gewaltsame Zuspitzung der Auseinandersetzungen in diesen Gebieten. Die Wissenschaftlerinnen, die die erst vor kurzem zur Feldforschung vor Ort waren, analysieren die Ursachen des hohen Konfliktpotenzials und geben Empfehlungen zur Deeskalation.
Vor dem Hintergrund des deutschen Engagements in Form von Waffenlieferungen und verschiedenen Ertüchtigungsmaßnahmen für Peschmergakämpferinnen und –kämpfer verweisen die Autorinnen auf die besondere Verantwortung der Bundesregierung. Sie müsse u. a. „mit Nachdruck die Umsetzung der von der kurdischen Regionalregierung selbst gesetzten Ziele – parlamentarische Legitimierung, Schutz von Minderheiten und Einhaltung von Menschenrechten – einfordern.“
Folgende Politikempfehlungen formulieren die BICC-Forscherinnen:
\ Ertüchtigungsmission im Irak auf den Prüfstand stellen
Angesichts der Zuspitzung des Risikos einer Gewalteskalation zwischen Akteuren, die die internationalen Partner im Kampf gegen den IS in den letzten drei Jahren im Irak aufgebaut haben, muss Deutschland seine Rolle und die Fortsetzung der Ertüchtigungsmission für die kurdischen Peschmerga auf den Prüfstand stellen: Statt fortgesetzter Ertüchtigung sollte die Forcierung des bereits begonnenen Prozesses zur Integration der Peschmerga-Einheiten und die Beseitigung separater Partei- und Privatmilizenstrukturen priorisiert werden.
\ Bilanz ziehen: Neue Konfliktdynamiken erkennen und gegensteuern
Ertüchtigungsmaßnahmen verändern den Ausgangskontext einer Konfliktlage maßgeblich, indem sie lokale Machtverhältnisse verschieben. Eine kritische Wirkungsanalyse zu diesem Zeitpunkt legt nahe, dass Ertüchtigungsmaßnahmen durch zivile Unterstützung rechtsstaatlicher demokratischer Prozesse ergänzt werden müssen. Die Bundesregierung sollte mit Nachdruck die von der kurdischen Regionalregierung (KRG) selbst gesetzten Ziele – demokratische Legitimierung, Schutz von Minderheiten und Einhaltung von Menschenrechten – einfordern.
\ Verhandlungen zu Art. 140 einleiten
Deutschland kann seine diplomatischen Einflussmöglichkeiten nutzen, um auf die Neuaufnahme der Verhandlungen zur Umsetzung des Art. 140 der irakischen Verfassung (Durchführung eines Zensus und eines Referendums in den umstrittenen Gebieten) zu drängen. Gegenüber Teheran sollte Deutschland für Einflussnahme auf die irakische Regierung werben, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Parallel dazu muss Deutschland mit den USA vereinbaren, dass sie bei ihren irakischen Partnern für dasselbe Vorhaben eintreten. Dabei sollte das Ergebnis von Verhandlungen zu Art. 140 offen gehalten und die generelle Ablehnung einer kurdischen Unabhängigkeit vermieden werden. Deutschland könnte sich anbieten, diese Verhandlungen als ehrlicher Makler, der an Frieden und Stabilität in der Region interessiert ist, zu moderieren.
\ Ertüchtigung nicht als langfristige Politik etablieren
Die Bundesregierung muss sich von der Illusion verabschieden, Ertüchtigungspolitik allein würde nachhaltig stabilisierend wirken und wäre von außen steuerbar. Das Beispiel Kurdistan-Irak verdeutlicht die Grenzen der Ertüchtigungspolitik und das hohe Risiko, damit einen breiten Fächer neuer Gewalt zu öffnen. Ertüchtigung darf deshalb keine langfristige Strategie der Bundesregierung darstellen. Die Tragfähigkeit bestehender Alternativen zur Ertüchtigung muss dringend erwogen werden, um zukünftig in Kontexten von drohendem Völkermord und Krieg konfliktvorbeugender agieren zu können.
Sie finden den Volltext des BICC Policy Brief 8\2017„Drohende Gewalteskalation nach dem Referendum – Wie kann deutsche Einflussnahme in Kurdistan-Irak deeskalierend wirken?“ unter
Quelle: Pressemitteilung BICC, 28.09.2017