DIE: Soziale Grundsicherungssysteme sind auch für arme Länder bezahlbar und zahlen sich für deren wirtschaftliche Entwicklung aus

In dieser Woche wird die zweite Ausgabe des Europäischen Entwicklungsberichts (European Report on Development/ ERD) veröffentlicht, der von der Europäischen Kommission und einigen Mitgliedsstaaten – darunter Deutschland – finanziert wird. Die Ausschreibung für die Erstellung der ersten beiden Ausgaben hatte das European University Institute (EUI) in Florenz gewonnen. Nachdem der erste Bericht der Überwindung von „Fragilität“, also dem Phänomen einer zunehmenden Zahl von politisch schwacher Staaten in Afrika gewidmet war, beschäftigt sich die diesjährige Ausgabe mit sozialer Sicherung in Subsahara-Afrika.

Die Empfehlungen des Berichts sind für Fachleute nicht besonders innovativ. Es ist aber bemerkenswert, mit welch klaren Worten sich das Autorenteam, das mehrheitlich aus Ökonomen besteht, in seinem Gutachten für ein deutlich stärkeres sozialpolitisches Engagement des Staates auch in den ärmeren Ländern Subsahara-Afrikas ausspricht: Diese seien durchaus in der Lage, bescheidene soziale Grundsicherungssysteme aufzubauen, zu finanzieren und zu verwalten, und könnten dadurch zu Wachstum, Armutsbekämpfung und der Erreichung der Millennium-Entwicklungsziele beitragen.

Damit greift der Bericht Forschungsergebnisse der letzten Jahre auf, die zeigen, welche zentrale Rolle soziale Sicherung für die ökonomische und politische Entwicklung in Entwicklungsländern spielt. Menschen, die keinen Zugang zu sozialen Sicherungssystemen haben, sind der Gefahr ausgesetzt (noch stärker) in Armut abzurutschen, wenn sie von einem Schicksalsschlag wie Krankheit, Missernte oder Erwerbsunfähigkeit getroffen werden. Möglicherweise müssen sie dann Ersparnisse auflösen, Vieh und andere Produktionsmittel veräußern und ihre Kinder zur Arbeit statt zur Schule schicken, um tägliche Ausgaben finanzieren zu können. Dadurch entledigen sie sich der Lebensgrundlage, die ihnen anderweitig helfen könnte, eine zumindest bescheidene Existenz aus eigener Kraft aufzubauen.

Noch gravierender ist, dass Haushalte ohne soziale Sicherheit von vornherein davor zurückschrecken, Ersparnisse zu investieren: Sie horten diese, um im Falle eines Schicksalsschlages flüssig zu sein und mögliche Einkommensausfälle überbrücken bzw. unerwartete Ausgaben finanzieren zu können. Menschen, die eine soziale Grundsicherung genießen, sind hingegen eher zu Investitionen in Bildung und Sachkapital bereit, die zusätzliche Risiken, aber auch die Aussicht auf Einkommensverbesserungen bergen. Empirische Untersuchungen legen nahe, dass die Existenz von sozialen Sicherungssystemen vor allem im informellen Sektor die Investitionsneigung stärkt und damit genau dort Wirtschaftswachstum fördert, wo dieses am ehesten? besten? meisten zur Armutsbekämpfung beiträgt.

Und schließlich schaffen soziale Sicherungssysteme auch Stabilität. Indem sie Armut und wirtschaftliche Unsicherheit mindern, senken sie auch die Neigung einer Gesellschaft zu gewalttätigen Formen der Auseinandersetzung über politische Ziele.

Vor allem aber zeigen sie den Bürgern, dass der Staat seine Verantwortung wahrnimmt. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass sich die Bürger durch die Existenz bzw. den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen auch (wieder) stärker mit dem Staat identifizieren und ihrerseits Bereitschaft zeigen, ihren Pflichten gegenüber der Gemeinschaft nachzukommen.

Soziale Grundsicherung ist somit nicht nur präventive Armutsbekämpfung, sondern auch eine Rückversicherung für unternehmerisches Handeln sowie die materielle Basis eines von allen Staatsbürgern akzeptierten Sozialvertrags.

Zu Recht wird gefragt, wie arme Länder soziale Sicherungssysteme finanzieren können. Und die bisherigen Erfahrungen der Entwicklungsländer – insbesondere in Subsahara-Afrika – nähren auch eher die Zweifel daran, dass dies gelingen kann. So ist fast nirgendwo eine Mehrheit der Bevölkerung durch Sozialsystemen abgesichert, die von den Mitgliedern selbst durch Beiträge finanziert werden: Sozialversicherungen, private Versicherungen oder Versicherungsvereine auf kommunaler Basis. Dies liegt daran, dass gerade in den ärmsten Ländern die Beiträge dieser Systeme für die meisten Menschen zu hoch liegen – nicht zuletzt weil diese nicht nur die Versicherungsleistungen sondern auch die nicht unerheblichen Kosten der Mitgliederwerbung und -betreuung, des Prämieneinzugs und der Prüfung gemeldeter Schadensfälle finanzieren müssen.

Derweil wurden vom Staat aus Steuermitteln finanzierte Sozialtransfersysteme lange mit dem Argument abgelehnt, dass es für sie keine finanziellen Spielräume in den Staatshaushalten von ärmeren Ländern gebe.

Der diesjährige ERD hält dem entgegen, dass dies in der wissenschaftlichen Debatte mittlerweile anders gesehen wird. Selbstverständlich können sich die ärmsten Länder keine umfassende soziale Sicherung aller Einwohner leisten. Sie können aber durchaus befriedigende Lösungen für besonders bedürftige Gruppen schaffen. So hat etwa Lesotho – ähnlich wie andere afrikanische Länder – ein System geschaffen, das allen Einwohnern ab einem bestimmten Alter unabhängig von Einkommen und Lebenssituation eine bescheidene Grundrente aus Steuermitteln finanziert. Obwohl Lesotho ein sehr armes Land ist, liegen die Kosten des Programms bei weniger als 2 % des Volkseinkommens. Die Transfers kommen nicht nur den Alten sondern in vielen Haushalten auch deren Enkeln zugute, die studieren und sich eine bessere Erwerbsbasis aufbauen wollen. Ähnlich hat Äthiopien ein Programm entwickelt, das allen armen Familien einen Arbeitsplatz beim Aufbau von ländlicher Infrastruktur beschaffen soll. Selbst wenn ein afrikanisches Land zusätzlich zu derartigen Programmen noch ein bedingungsloses Grundeinkommen für Waisen einrichten würde, lägen die Gesamtkosten nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation bei weniger als 6 % des Volkseinkommens. Durch Umschichtungen im Staatshaushalt ließe sich dieser Betrag auch in ärmeren Ländern aufbringen.

Leider schweigt sich der diesjährige ERD darüber aus, wie und durch wen soziale Sicherung dort organisiert werden soll, wo der Staat hierzu nicht willens bzw. in der Lage ist. Dort lässt sich soziale Sicherung nur mit nichtstaatlichen, möglicherweise auf lokaler Ebene organisierten Systemen schaffen, zum Beispiel durch Mikroversicherungsprogramme. Diesen Weg berücksichtigt der ERD nicht, weil er soziale Sicherung ausschließlich als Staatsaufgabe definiert. Dort, wo es keinen leistungsfähigen Staat gibt, wird Selbsthilfe, z.B. Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit für Bezieher niedriger Einkommen, der einzige Ausweg bleiben. Und dies gilt mittlerweile für ein Viertel bis die Hälfte aller Länder in Subsahara-Afrika, wie die Autoren selbst im letztjährigen ERD festgestellt haben.

Von, Dr. Markus Loewe, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE).

© Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn.

KolumneIn dieser Woche wird die zweite Ausgabe des Europäischen Entwicklungsberichts (European Report on Development/ ERD) veröffentlicht, der von der Europäischen Kommission und einigen Mitgliedsstaaten – darunter Deutschland – finanziert wird. Die Ausschreibung für die Erstellung der ersten beiden Ausgaben hatte das European University Institute (EUI) in Florenz gewonnen. Nachdem der erste Bericht der Überwindung von „Fragilität“, also dem Phänomen einer zunehmenden Zahl von politisch schwacher Staaten in Afrika gewidmet war, beschäftigt sich die diesjährige Ausgabe mit sozialer Sicherung in Subsahara-Afrika.

Die Empfehlungen des Berichts sind für Fachleute nicht besonders innovativ. Es ist aber bemerkenswert, mit welch klaren Worten sich das Autorenteam, das mehrheitlich aus Ökonomen besteht, in seinem Gutachten für ein deutlich stärkeres sozialpolitisches Engagement des Staates auch in den ärmeren Ländern Subsahara-Afrikas ausspricht: Diese seien durchaus in der Lage, bescheidene soziale Grundsicherungssysteme aufzubauen, zu finanzieren und zu verwalten, und könnten dadurch zu Wachstum, Armutsbekämpfung und der Erreichung der Millennium-Entwicklungsziele beitragen.

Damit greift der Bericht Forschungsergebnisse der letzten Jahre auf, die zeigen, welche zentrale Rolle soziale Sicherung für die ökonomische und politische Entwicklung in Entwicklungsländern spielt. Menschen, die keinen Zugang zu sozialen Sicherungssystemen haben, sind der Gefahr ausgesetzt (noch stärker) in Armut abzurutschen, wenn sie von einem Schicksalsschlag wie Krankheit, Missernte oder Erwerbsunfähigkeit getroffen werden. Möglicherweise müssen sie dann Ersparnisse auflösen, Vieh und andere Produktionsmittel veräußern und ihre Kinder zur Arbeit statt zur Schule schicken, um tägliche Ausgaben finanzieren zu können. Dadurch entledigen sie sich der Lebensgrundlage, die ihnen anderweitig helfen könnte, eine zumindest bescheidene Existenz aus eigener Kraft aufzubauen.

Noch gravierender ist, dass Haushalte ohne soziale Sicherheit von vornherein davor zurückschrecken, Ersparnisse zu investieren: Sie horten diese, um im Falle eines Schicksalsschlages flüssig zu sein und mögliche Einkommensausfälle überbrücken bzw. unerwartete Ausgaben finanzieren zu können. Menschen, die eine soziale Grundsicherung genießen, sind hingegen eher zu Investitionen in Bildung und Sachkapital bereit, die zusätzliche Risiken, aber auch die Aussicht auf Einkommensverbesserungen bergen. Empirische Untersuchungen legen nahe, dass die Existenz von sozialen Sicherungssystemen vor allem im informellen Sektor die Investitionsneigung stärkt und damit genau dort Wirtschaftswachstum fördert, wo dieses am ehesten? besten? meisten zur Armutsbekämpfung beiträgt.

Und schließlich schaffen soziale Sicherungssysteme auch Stabilität. Indem sie Armut und wirtschaftliche Unsicherheit mindern, senken sie auch die Neigung einer Gesellschaft zu gewalttätigen Formen der Auseinandersetzung über politische Ziele.

Vor allem aber zeigen sie den Bürgern, dass der Staat seine Verantwortung wahrnimmt. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass sich die Bürger durch die Existenz bzw. den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen auch (wieder) stärker mit dem Staat identifizieren und ihrerseits Bereitschaft zeigen, ihren Pflichten gegenüber der Gemeinschaft nachzukommen.

Soziale Grundsicherung ist somit nicht nur präventive Armutsbekämpfung, sondern auch eine Rückversicherung für unternehmerisches Handeln sowie die materielle Basis eines von allen Staatsbürgern akzeptierten Sozialvertrags.

Zu Recht wird gefragt, wie arme Länder soziale Sicherungssysteme finanzieren können. Und die bisherigen Erfahrungen der Entwicklungsländer – insbesondere in Subsahara-Afrika – nähren auch eher die Zweifel daran, dass dies gelingen kann. So ist fast nirgendwo eine Mehrheit der Bevölkerung durch Sozialsystemen abgesichert, die von den Mitgliedern selbst durch Beiträge finanziert werden: Sozialversicherungen, private Versicherungen oder Versicherungsvereine auf kommunaler Basis. Dies liegt daran, dass gerade in den ärmsten Ländern die Beiträge dieser Systeme für die meisten Menschen zu hoch liegen – nicht zuletzt weil diese nicht nur die Versicherungsleistungen sondern auch die nicht unerheblichen Kosten der Mitgliederwerbung und -betreuung, des Prämieneinzugs und der Prüfung gemeldeter Schadensfälle finanzieren müssen.

Derweil wurden vom Staat aus Steuermitteln finanzierte Sozialtransfersysteme lange mit dem Argument abgelehnt, dass es für sie keine finanziellen Spielräume in den Staatshaushalten von ärmeren Ländern gebe.

Der diesjährige ERD hält dem entgegen, dass dies in der wissenschaftlichen Debatte mittlerweile anders gesehen wird. Selbstverständlich können sich die ärmsten Länder keine umfassende soziale Sicherung aller Einwohner leisten. Sie können aber durchaus befriedigende Lösungen für besonders bedürftige Gruppen schaffen. So hat etwa Lesotho – ähnlich wie andere afrikanische Länder – ein System geschaffen, das allen Einwohnern ab einem bestimmten Alter unabhängig von Einkommen und Lebenssituation eine bescheidene Grundrente aus Steuermitteln finanziert. Obwohl Lesotho ein sehr armes Land ist, liegen die Kosten des Programms bei weniger als 2 % des Volkseinkommens. Die Transfers kommen nicht nur den Alten sondern in vielen Haushalten auch deren Enkeln zugute, die studieren und sich eine bessere Erwerbsbasis aufbauen wollen. Ähnlich hat Äthiopien ein Programm entwickelt, das allen armen Familien einen Arbeitsplatz beim Aufbau von ländlicher Infrastruktur beschaffen soll. Selbst wenn ein afrikanisches Land zusätzlich zu derartigen Programmen noch ein bedingungsloses Grundeinkommen für Waisen einrichten würde, lägen die Gesamtkosten nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation bei weniger als 6 % des Volkseinkommens. Durch Umschichtungen im Staatshaushalt ließe sich dieser Betrag auch in ärmeren Ländern aufbringen.

Leider schweigt sich der diesjährige ERD darüber aus, wie und durch wen soziale Sicherung dort organisiert werden soll, wo der Staat hierzu nicht willens bzw. in der Lage ist. Dort lässt sich soziale Sicherung nur mit nichtstaatlichen, möglicherweise auf lokaler Ebene organisierten Systemen schaffen, zum Beispiel durch Mikroversicherungsprogramme. Diesen Weg berücksichtigt der ERD nicht, weil er soziale Sicherung ausschließlich als Staatsaufgabe definiert. Dort, wo es keinen leistungsfähigen Staat gibt, wird Selbsthilfe, z.B. Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit für Bezieher niedriger Einkommen, der einzige Ausweg bleiben. Und dies gilt mittlerweile für ein Viertel bis die Hälfte aller Länder in Subsahara-Afrika, wie die Autoren selbst im letztjährigen ERD festgestellt haben.

Von, Dr. Markus Loewe, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE).

© Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn.

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