DIE: Das Experiment der EU-Nachhaltigkeitstaxonomie

Die Investitionen von heute entscheiden darüber, was und wie in den nächsten Jahrzehnten produziert wird. Finanzmärkte können daher einen großen Einfluss auf die Transformation der Wirtschaft zu mehr Nachhaltigkeit haben – im Positiven wie im Negativen. Eine zentrale Rolle bei den Bemühungen, Kapitalflüsse in nachhaltigere Wirtschaftsmodelle umzuleiten, könnte einem Klassifikationssystem mit dem sperrigen Namen EU-Taxonomie für nachhaltige Aktivitäten zukommen. Die Taxonomie definiert, welche wirtschaftlichen Aktivitäten nach Auffassung der EU als nachhaltig gelten sollen. Damit die Taxonomie tatsächlich zu mehr Nachhaltigkeit beitragen kann, wird es wichtig sein, die enthaltenen Kriterien hinreichend anspruchsvoll zu gestalten, die Taxonomie sinnvoll in andere Regulierungen und Politikmaßnahmen einzubetten und ihre globalen Auswirkungen zu berücksichtigen.

Als „gemeinsame Sprache“ auf den Finanzmärkten soll die Taxonomie es Investor*innen erleichtern, die Nachhaltigkeit von Investitionsprojekten in ihren Entscheidungen zu berücksichtigen – ob aus einer moralischen Motivation oder weil sie befürchten, dass nicht nachhaltige Wirtschaftsweisen in der Zukunft nicht mehr profitabel sein werden. Hierfür definiert die Taxonomie eine Reihe von ökologischen (und in Zukunft voraussichtlich auch sozialen) Zielen, wie den Klimaschutz oder den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft. Eine Aktivität soll dann als nachhaltig gelten, wenn sie einen wesentlichen Beitrag zu einem dieser Ziele leistet und das Erreichen der anderen Ziele nicht erheblich beeinträchtigt. Unter welchen Bedingungen dies der Fall ist, wird dabei für viele Industrien ganz konkret definiert (z.B. mithilfe von Grenzwerten).

Doch die Entwicklung eines so umfangreichen Regelwerks wie der Taxonomie ist ein hochkomplexes Unterfangen, bei dem auch leicht Fehlanreize entstehen können. So gelingt es leider nicht immer, hinreichend anspruchsvolle Kriterien gegen die Partikularinteressen bestimmter Industrien durchzusetzen. Viel öffentliche Aufmerksamkeit erhielt in diesem Zusammenhang die Einstufung der Stromerzeugung mithilfe von Erdgas oder Atomkraft, die nach der Taxonomie unter bestimmten Bedingungen als nachhaltig gilt. Aber auch schon zuvor hatten mehrere Nichtregierungsorganisationen ihre Teilnahme an einer Expert*innengruppe zeitweise ausgesetzt, die die EU in der Entwicklung der Taxonomie unterstützt. Sie protestierten damit gegen die Ausgestaltung der Kriterien für nachhaltige Waldinvestments und Bioenergie. Im Zuge des wieder erwachten Enthusiasmus für Aufrüstung wittern Rüstungslobbyist*innen nun sogar die Chance zu erreichen, dass die EU der Kriegswaffenproduktion einen positiven Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit attestiert. Solche Einstufungen können die Lenkungswirkung der Taxonomie hin zu tatsächlich nachhaltigen Aktivitäten stark reduzieren und ihre Glaubwürdigkeit bei Investor*innen beschädigen.

Die Auswirkungen der Taxonomie werden zudem davon abhängen, wie sie in andere Regulierungen und Politikmaßnahmen eingebettet wird. Fest steht, dass die die Taxonomie mit Berichtspflichten verbunden ist. So müssen etwa alle großen Unternehmen darlegen, welcher Anteil ihres Umsatzes sowie ihrer Betriebs- und Investitionsausgaben mit taxonomiekonformen Aktivitäten assoziiert ist. Außerdem werden sich staatliche Siegel, wie das EU Eco Label für Finanzprodukte, auf die Taxonomie beziehen. Über solche auf Transparenz zielende Maßnahmen hinaus werden jedoch noch weitere Möglichkeiten diskutiert, wie die Taxonomie genutzt werden kann, um Kapitelströme umzuleiten. Beispielweise könnte die Europäische Zentralbank (EZB) bei Anleihekäufen bevorzugt taxonomiekonforme Anleihen erwerben („green quantitative easing“). Öffentliche Banken könnten bei ihren Kreditvergabe- und Investitionsentscheidungen die Taxonomie berücksichtigen. Und die Kapitalanforderungen an Banken könnten an die Nachhaltigkeit ihrer Investitionen geknüpft werden.

Bei all dem sollte auch beachtet werden, dass die Auswirkungen der EU-Taxonomie weit über Europa hinaus zu spüren sein werden. Erstens wird die Taxonomie ein bedeutender Standard für globale Finanzmärkte werden. Schließlich müssen alle Akteure, die Finanzprodukte auf dem wichtigen EU-Markt anbieten wollen, in Zukunft darüber berichten, zu welchem Anteil ihre Produkte taxonomiekonforme Aktivitäten finanzieren. Zweitens ist die EU bei weitem nicht die einzige Institution, die zurzeit eine Taxonomie entwickelt. Es ist anzunehmen, dass sich andere Regionen und Länder bei der Ausgestaltung ihrer Taxonomien unter anderem an der EU orientieren werden. Drittens werden sich die sozialen Kriterien wohl zum Teil auf globale Lieferketten beziehen. Die Auswirkungen der Taxonomie auf nicht-EU-Länder sollten daher bei der Ausgestaltung und zukünftigen Weiterentwicklung der Taxonomie unbedingt berücksichtigt werden – ohne dass dies zu einer Absenkung von Standards führen sollte. Hierfür sind der Dialog und die Koordination mit anderen Ländern zentral.

Die EU-Nachhaltigkeitstaxonomie ist ein großes Experiment. Mit ihr verbindet sich das Versprechen, Ziele für private Unternehmen zu definieren, die über die reine Profitmaximierung hinausgehen. Milton Friedmans „The business of business is business“ – und zwar nichts als das – soll also endlich nicht mehr gelten. Der Erfolg der Taxonomie wird auch davon abhängen, ob die enthaltenen Kriterien regelmäßig überprüft, ihr Ambitionsniveau über die Jahre konsequent angehoben und die Auswirkungen der Taxonomie – ob innerhalb oder außerhalb der EU – genau verfolgt werden.

Hilbrich, Sören
Die aktuelle Kolumne (2022)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne vom 28.03.2022