Bündnis für nachhaltige Textilien | „Unsichtbare Frauen“ – Due-Diligence-Risiken und die Geschlechter-Datenlücke

Frauen spielen eine Schlüsselrolle in der globalen textilen Wertschöpfungskette. Sie machen schätzungsweise 70 Prozent der 60 Millionen der Beschäftigten im Bekleidungs- und Textilsektor weltweit aus. Darüber hinaus arbeiten viele weitere Frauen in den vorgelagerten Stufen der Wertschöpfungskette. Trotz der großen Zahl sind Arbeiterinnen oft „unsichtbar“, denn es existieren kaum genaue Daten oder Informationen über ihre Mitarbeit, ihre Funktionen und ihre Arbeitsbedingungen.

Unsichtbare Frauen sind hauptsächlich in nicht-standardisierten Beschäftigungsformen oder auf den unteren Ebenen der Wertschöpfungskette zu finden. Dazu gehören die sporadische Anstellung in Fabriken, um Auftragsspitzen zu bewältigen, Heimarbeit (etwa zur Verzierung von Kleidung und Textilien) und die Unterstützung im Familienbetrieb, zum Beispiel in der Baumwollproduktion. Unsichtbare Frauen sind oft in prekären Arbeitsbedingungen tätig und einem erheblichen Risiko von Diskriminierung und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt.

Ohne genderspezifische Transparenz in ihren Wertschöpfungsketten übersehen Unternehmen diese Risiken und sind vielfach nicht in der Lage, ihre menschenrechtliche Sorgfaltspflicht einzuhalten. Diese Transparenz ist entscheidend, um die Rechte und das Wohlergehen von Arbeiterinnen zu gewährleisten und um bessere wirtschaftliche Ergebnisse und nachhaltigere Wertschöpfungsketten zu erzielen.

Verbesserungsbedarf bei der Sammlung, Erfassung und Berichterstattung von Daten

Das Programm Work Opportunities for Women (WOW) führte in Zusammenarbeit mit führenden britischen Einzelhändlern Untersuchungen zu geschlechtsspezifischen Datenlücken in der Textile-Wertschöpfungskette durch. WOW stellte dabei Lücken in der Sammlung, Erfassung und Berichterstattung von konsistenten geschlechtsspezifischen Daten fest. Unternehmen verfügen zwar über einige nach Geschlecht aufgeschlüsselte Daten, diese sind jedoch unvollständig, widersprüchlich oder beziehen sich auf einzelne Initiativen oder Produktionssegmente und nicht auf die gesamte Wertschöpfungskette. Die drei zentralen von WOW identifizierten Lücken sind:

  • Lücken in der Datensammlung: Auf den oberen Stufen der Wertschöpfungskette  sammeln Zulieferer, Sozialauditor*innen und Initiativen große Mengen an Daten über Beschäftigte. Allerdings variiert die Art und Weise, wie die Zahlen gesammelt werden. Zudem werden sie oft so aggregiert, dass keine Aufschlüsselung nach Geschlecht für die verschiedenen Positionen (z. B. Arbeiter*innen, Vorgesetzte und Manager*innen) möglich ist. Auf vorgelagerten Stufen der Produktion sind – unter anderem durch Unterauftrag-Vergabe – nur sehr wenige geschlechtsspezifische Daten über Arbeiter*innen verfügbar (z. B. von Lohnunternehmer*innen, Heimarbeiter*innen oder Gelegenheitsarbeiter*innen in der Landwirtschaft).
  • Lücken in der Datenerfassung: Selbst wenn Daten vorhanden sind, werden sie nicht systematisch oder in einer Weise aufgezeichnet, die leicht zugänglich ist. So sammeln Sozialauditor*innen zwar Daten in ihren Notizen, aber nur ein Teil davon wird in die pdf-Dateien der Sozialaudits eingetragen, die zudem keine weitere Bearbeitung zulassen. Noch weniger Daten werden in Datenbanken zur Einhaltung sozialer Standards gespeist und oft überschrieben, wenn neue Daten eingegeben werden. Dies erschwert die Nachverfolgung und Vergleichbarkeit.
  • Lücken in der Berichterstattung: Einige führende Marken und Einzelhändler berichten inzwischen öffentlich über ihre globalen Zulieferer und die Zahl ihrer Beschäftigten, einschließlich des Frauenanteils. Das ist ein wichtiger Fortschritt in Sachen Transparenz. Wenn die geschlechtsspezifischen Daten jedoch nicht angemessen erfasst und verarbeitet und noch dazu stark aggregiert werden, sind sie meist ungenau und übersehen Arbeiterinnen in prekären Arbeitsverhältnissen, also genau diejenigen mit den größten Menschenrechtsrisiken.

Frauen sind höheren Risiken ausgesetzt als Männer

Die OECD-Leitsätze betonen, dass Frauen deutlich größeren Risiken ausgesetzt sind als Männer. Frauen sind unverhältnismäßig stark von negativen Auswirkungen betroffen. Solange Frauen unsichtbar bleiben und statistisch unterrepräsentiert, ist es unmöglich, menschenrechtliche Sorgfaltspflichten einzuhalten.

Viele Unternehmen verlassen sich auf Sozialaudits. Diese sind durchaus geeignet, messbare Probleme zu identifizieren (z.B. Gesundheit und Sicherheit). Sie sind aber ineffektiv, wenn es darum geht, geschlechtsspezifische Probleme zu identifizieren, insbesondere Diskriminierung, sexuelle Belästigung und geschlechtsspezifische Gewalt. Frauen sind diesen Risiken insbesondere dann mit größerer Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, wenn ihre Arbeit unsicher ist und Vorgesetzte und das Management überwiegend männlich sind. Ohne ein genaues Geschlechterprofil aller Positionen (Festangestellte und Gelegenheitsarbeiter*innen) und deren Vorgesetzten/Management bleibt es schwierig, potenzielle Risiken zu erkennen oder anzugehen.

Die Covid-19-Krise hat die geschlechtsspezifischen Risiken weiter verschärft. In der Textil- und Bekleidungsindustrie sind Frauen in unsicheren Arbeitsverhältnissen oder Heimarbeit überrepräsentiert. Ihnen drohen besonders oft Entlassungen oder Einkommensverluste. Es fehlt ihnen an sozialer Sicherung oder an Mitteln zur Unterstützung ihrer Haushalte. Dadurch sind viele von Armut bedroht. Es ist belegt, dass Frauen seit dem Ausbruch der Pandemie sowohl zuhause als auch am Arbeitsplatz vermehrt geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind.

Unternehmen müssen einen Beitrag leisten

Die WOW-Allianz hat Möglichkeiten für Unternehmen identifiziert, mehr Transparenz über die Arbeit von Frauen in globalen Wertschöpfungsketten zu schaffen und Strategien zu entwickeln, um die Gleichstellung der Geschlechter und die wirtschaftliche Emanzipation von Frauen zu fördern. Angesichts der vielen Ressourcen, die Unternehmen für die Einhaltung sozialer Standards aufwenden, könnte dies eine wichtige Quelle für Erkenntnisse über die Arbeit und die Bedingungen weiblicher Beschäftigter in globalen Wertschöpfungsketten werden – vorausgesetzt, geschlechtsspezifische Daten werden besser erfasst. Auch wenn dies kein Allheilmittel ist, sind verlässliche Daten ein Ausgangspunkt für weitere Verbesserungen. Unternehmen sollten sich daher stärker dafür einsetzen, dass Frauen statistisch adäquat erfasst werden.

  • Datenerhebung: Trotz ihrer Einschränkungen stellen Sozialaudits einen Mechanismus dar, der effektiver genutzt werden könnte. Unternehmen müssen systematisch und konsequent Daten erheben, die es ermöglichen, Risiken für Frauen zu identifizieren, um darauf aufbauend Maßnahmen zu ergreifen. Zulieferer müssen von Subunternehmern und Unterlieferanten Gender-Daten anfordern.
  • Art der Datenerfassung: Daten sollten so erfasst werden, dass sie für detaillierte und nach Geschlecht aufgeschlüsselte Analysen und die Nachverfolgung im Zeitverlauf nutzbar sind. Unternehmen sollten nur solche Sozialaudits einsetzen, die es ihnen ermöglichen, ihre Risiken im Laufe der Zeit effektiv zu identifizieren und anzugehen, indem sie vergangene Daten in einem geeigneten Format archivieren.
  • Datenberichterstattung: Unternehmen müssen sich für Berichtsformate einsetzen, die Frauen berücksichtigen und eine angemessene Rechenschaft fördern. Die Berichte sollten möglichst unternehmens- und organisationsübergreifend kompatibel sein, um Veränderungen im Zeitablauf zu vergleichen und Fortschritte zu bewerten.

Es gibt Anzeichen für positive Veränderungen. Einige führende Einzelhändler und Marken prüfen ihre Verfahren und Praktiken, um die Sichtbarkeit von Arbeiterinnen in ihren Textil- und Bekleidungs-Wertschöpfungsketten zu steigern. Eine Reihe von führenden Organisationen entwickelte das Tool Gender Data and Impact (GDI), um Gender-Aspekte in Sorgfaltsprozesse zu integrieren. Sedex, eine führende internationale Plattform für ethischen Handel und soziale Compliance, hebt die Sammlung und Berichterstattung von besseren Gender-Daten und -Informationen als ein wichtiges Ziel ihrer Arbeit hervor.

Verlässliche Daten über weibliche und männliche Beschäftigte sind jedoch nur ein Ansatz, um eine effektivere Sorgfaltspflicht in den Wertschöpfungsketten der Textil- und Bekleidungsindustrie zu erreichen. Langfristige Veränderungen erfordern, dass die Unternehmen die gesammelten Daten analysieren, sie in wirksame Maßnahmen für Arbeiter*innen umsetzen und besser untereinander sowie mit der Zivilgesellschaft und politischen Entscheidungsträgern zusammenarbeiten. Nur gemeinsam mit anderen können Unternehmen den Weg zu resilienten und nachhaltigeren Wertschöpfungsketten ebnen.

Weitere Informationen

Quelle: Bündnis für nachhaltige Textilien, Stephanie Barrientos, 08.03.2021