DIE | Wie kann Entwicklungszusammenarbeit machtkritischer werden?

Entwicklungszusammenarbeit steht seit ihrer Entstehung in den 1950er Jahren unter dem Verdacht, koloniale Verhältnisse fortzuführen. Vertreter*innen von Post-Development-Theorien betonen deshalb, dass das Konzept „Entwicklungszusammenarbeit“ eine problematische Einteilung der Welt vornimmt: In „entwickelte“ Länder einerseits, und weniger „entwickelte“ Länder – die sich dem westlich-kapitalistischen Vorbild anpassen sollten – andererseits. In den Augen der Kritiker*innen führt diese Zweiteilung zu einer Fortsetzung eines kolonialen Machtgefüges, in dem Expert*innen des Globalen Nordens als „rückständig“ empfundenen Gesellschaften des Globalen Südens Lösungsansätze empfehlen.

Auch wenn Selbstbestimmung (Ownership) spätestens seit der Paris Agenda von 2005 eine Priorität der Entwicklungszusammenarbeit ist: In der Praxis werden die Ziele von Entwicklungsprojekten, obgleich sie sich an Strategien der Partnerregierungen orientieren, oft von Expert*innen im Globalen Norden definiert. Das Machtgefälle ist strukturell verwurzelt, und deshalb im entwicklungspolitischen Alltag schwierig zu überwinden. Allzu häufig sind die auf Projektebene mitwirkenden Durchführungspartner*innen, also beispielsweise die Mitarbeiter*innen der nationalen Ministerien oder Verbände, und die Adressat*innen der Projekte wenig in die Entscheidungsprozesse involviert. Sie müssen sich damit abfinden, die Projektziele ausländischer Organisationen umzusetzen, die weniger über die genauen lokalen Gegebenheiten wissen als sie. Blaupausen, die im Globalen Norden erdacht wurden, scheitern oft, wenn sie in ihrer Allgemeinheit nicht zum lokalen Kontext passen. Auch Projekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere im Bereich der Regierungsführung (Governance), berücksichtigen den lokalen Kontext oftmals nicht ausreichend, wie die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in einer Evaluierung selbst feststellte. Wenn jedoch Lösungen diktiert werden, anstelle sie gemeinsam zu entwerfen, besteht nicht nur die Gefahr, dass Projekte keinen Erfolg haben. Auf der sozialen Ebene kann eine unzureichende Mitbestimmung der Partnerorganisationen auch zu einer Ablehnung der Zusammenarbeit führen.

Die Post-Development-Debatte kann dazu inspirieren, die Entwicklungszusammenarbeit im Sinne von mehr Macht- und Kontextsensibilität zu überdenken und die Selbstbestimmung der Partner*innen und Adressat*innen der Projekte stärker in den Fokus zu setzen. Konkret bedeutet dies, dass Problemstellungen, Projektziele und Indikatoren von den Partner*innen und anderen Beteiligten im Dialog definiert und Projekte selbst durchgeführt werden. Mitarbeiter*innen aus dem Globalen Norden hätten so nicht die Rolle der Expert*innen inne, welche die vermeintlichen Lösungen bieten. Sie wären vielmehr Suchende, Moderator*innen und Mediator*innen, die alle Interessensvertreter*innen an einen Tisch bringen, sie bei der eigenen Planung konstruktiv begleiten und finanzieren. Die direkt Beteiligten des Partnerlandes setzen dabei ihre Kenntnisse über ihr Umfeld in der Projektplanung ein und definieren das Problem, dessen sozialen, politischen und ökonomischen Kontext sie selbst am besten kennen. Dies gilt insbesondere auch für marginalisierte oder finanziell benachteiligte Gruppen, deren Mitbestimmungsrecht in Entwicklungsstrategien bisher zu wenig Beachtung findet. Der Post-Development-Ansatz mahnt, bereits in der Problem- und Projektdefinition auf lokale Stärken zu bauen. Häufig stehen derzeit bei der Projektplanung von außen definierte Mängeln eines Partnerlandes im Fokus, was mit einer Defizitanalyse gleichzusetzen ist. In vielen afrikanischen Kulturen gibt es beispielsweise direktdemokratische Traditionen, die es stattdessen anzuerkennen und in der Projektdurchführung zu integrieren gilt. Der Post-Development-Ansatz kann in der Praxis dabei helfen, Eigenverantwortung zu stärken und gleichzeitig kontext-sensibler zu agieren – und so auch den Erfolg von Entwicklungsprojekten zu erhöhen.

Ein solch machtkritisches Vorgehen ist ebenfalls in der Entwicklungsforschung anwendbar. Die Fragestellungen gemeinsamer Forschungsvorhaben müssen gleichermaßen durch Forschende im Globalen Süden definiert werden. Ebenso sollten Forschende und Intellektuelle der Partnerländer finanziell und ideell gefördert werden, ihre eigenen Ideen, beispielsweise von nachhaltiger Entwicklung, zu finden und zu verbreiten. Dies würde einen gleichberechtigten und wechselseitigen Austausch stärken.

Um dies zu erreichen, ist ein Umdenken notwendig. Mitarbeiter*innen von Entwicklungsorganisationen und Entwicklungsforscher*innen im Globalen Norden sollten sich nicht mehr als Expert*innen und Strateg*innen eines Landes oder gar eines Kontinents verstehen. Die Projekt- und Finanzplanungen müssen flexibler werden, damit die Ideen der Partner*innen maßgeblich in die Gestaltung einfließen können. Nur so kann ein Teil des kolonialen Erbes abgelegt werden. Das sind wir dem Globalen Süden schuldig.

Quelle: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), 16.11.2020