DEval | Katastrophen vermeiden und auf Langzeitfolgen vorbereiten: Arbeitsmarktpolitik in der Covid-19-Krise

Überall auf der Welt hat die Covid-19-Krise verheerende Folgen für die Arbeitsmärkte: So sind bereits die Hälfte der weltweit vorhandenen Arbeitsplätze von den Auswirkungen der Pandemie betroffen und die Einkommen, auch im informellen Sektor, sind um bis zu 60 Prozent gesunken (ILO, 2020). Dabei gestaltet sich der Schock selbst in reichen Ländern überall unterschiedlich. Während sich die Arbeitslosenquote in den Vereinigten Staaten zwischen Januar und April 2020 von 3,5 auf 14,7 Prozent vervierfachte, stieg sie in den Niederlanden nur geringfügig, nämlich von 3,0 auf 3,4 Prozent (OECD, 2020). Die Ursache dafür sind jeweils unterschiedliche Arbeitsmarktinstitutionen und -politiken. So machen beispielsweise viele europäische Länder ausgiebigen Gebrauch von Kurzarbeitsregelungen und befristeten Lohnsubventionen, um die Arbeitslosigkeit auf einem niedrigen Niveau zu halten.

In Entwicklungsländern ist die Lage dagegen deutlich schwieriger. In den letzten Wochen verlagerte sich der Schwerpunkt der Covid-19-Pandemie in den globalen Süden, wo die Gesundheitsinfrastruktur und die sozialen Sicherungssysteme für die Bewältigung der Krisenfolgen im Allgemeinen weniger gut gerüstet sind (Mahler und Wadhwa, 2020). Die strengen Ausgangssperren und Kontaktverbote hatten dramatische Folgen für diejenigen, die nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen konnten. Dies gilt insbesondere für Beschäftigte des informellen Sektors. In Indien lag die Arbeitslosenquote im April bei über 20 Prozent und in Nigeria erwarten die Behörden, dass die Quote auf über 30 Prozent steigen wird (UN DESA a, 2020). Wegen der enormen Größe des informellen Sektors und der begrenzten finanziellen und administrativen Ressourcen ist es im globalen Süden schwieriger, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen umzusetzen.

Da die Zahl der Todesopfer und die wirtschaftlichen Kosten der Pandemie in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in den letzten Wochen gestiegen sind, musste die Weltbank ihre April-Schätzung für die durch Covid-19 in extreme Armut getriebenen Menschen von 40-60 Millionen auf 71-100 Millionen Menschen korrigieren (Mahler et al., 2020). Arme Länder haben nur wenige arbeitsmarktpolitische Instrumente, die sie der Krise entgegensetzen können. So ist der Anteil der Jobs, die von zu Hause aus erledigt werden können, relativ gering (Dingel und Niemann, 2020). Auch die Möglichkeiten für Telearbeit sind sehr ungleichmäßig verteilt, da Routinearbeiten im Home Office nur in wenigen Sektoren und Berufen möglich sind. In vielen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen sind das verarbeitende Gewerbe, der Tourismus und der Rohstoffsektor am stärksten betroffen (UN DESA a, 2020). Besonders leiden vulnerable Bevölkerungsgruppen wie informell Beschäftigte und Frauen mit geringem Einkommen unter den Auswirkungen von Covid-19.

Die Länder des globalen Südens haben unterschiedlich auf die Krise reagiert (Gentilini et al., 2020): So haben viele Länder ihre Leistungstransfers erweitert oder neue Transferprogramme aufgelegt. Diese Maßnahmen sind auch ein Ergebnis zahlreicher wissenschaftlicher Evaluierungen, die belegen, dass derartige Transferprogramme tatsächlich die Armut verringern (ein neuerer Beitrag zu diesem Thema stammt von (Bastagli et al., 2019). Allerdings werden mit diesen Programmen nach wie vor nur 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung erreicht. Angesichts der enormen Bedeutung des informellen Sektors in den Ländern des globalen Südens sind Lohnsubventionen und Arbeitslosenunterstützung weit weniger wirksam und werden daher viel weniger genutzt als in den OECD-Ländern. Hinzu kommt, dass die fiskalischen Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft in den Ländern des globalen Südens nur ein Volumen von 1 bis 2 Prozent des BIP haben, während die OECD-Länder massive Konjunkturprogramme fahren (UN DESA b, 2020).

Bislang liegen nur vorläufige, einzelne Hinweise darauf vor, dass die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die in der Vergangenheit zur Bekämpfung von Pandemiefolgen getroffen wurden, tatsächlich wirksam waren (IPA, 2020). Die langfristigen Auswirkungen der Covid-19-Krise sind allerdings noch weitaus schwieriger vorherzusagen und könnten noch schwerwiegender ausfallen. So ist es beispielsweise sehr plausibel, dass Covid-19 die derzeit aufgrund der verstärkten Automatisierung und Digitalisierung zu beobachtenden Veränderungen und Verschiebungen zwischen den Sektoren beschleunigt. Bereits vor Ausbruch der Pandemie machten physische und virtuelle Automatisierungsprozesse, bei denen künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen genutzt werden, bis dahin als sicher geltende Berufe zunehmend überflüssig. Der allgemeine Trend zur Digitalisierung und Automatisierung betrifft in Volkswirtschaften mit niedrigem und mittlerem Einkommen zahlreiche Routinetätigkeiten, für die keine größeren Qualifikationen erforderlich sind, beispielsweise in der Landwirtschaft, in der industriellen Produktion sowie im Einzelhandel (McKinsey Global Institute, 2017).

Abbildung 1 veranschaulicht diese Gefahren. Sie stellt die Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation zu den wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 auf der X-Achse dar. Auf der Y-Achse finden sich Schätzungen des McKinsey Global Institute im Hinblick auf das Automatisierungspotenzial einzelner Sektoren (McKinsey Global Institute, 2017); die Position eines Sektors auf der Y-Achse gibt eine Idee dafür, wie viele Arbeitsplätze in jedem Sektor durch Automatisierungsprozesse wegfallen könnten. Die Sektoren mit dem höchsten Automatisierungspotenzial sind gerade die Bereiche, die von der Pandemie am stärksten betroffen sind. Der Grund dafür liegt darin, dass Berufe mit hohem Automatisierungspotenzial sehr oft mit physischem Kontakt zu Waren oder Kunden verbunden sind. Zur Minderung des Infektionsrisikos setzen viele Unternehmen, Dienstleister und Verbraucher*innen verstärkt auf Technologien, mit denen sich ein physischer Kontakt vermeiden lässt. Dazu zählen das Einkaufen im Internet, die automatische Lieferung von Waren und die automatische Bereitstellung von Dienstleistungen (EY, 2020). Zwar ist es möglich, dass die Beschäftigten im Gesundheitswesen und im Einzelhandel aufgrund der öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie derzeit genießen, kurzfristig von dieser Entwicklung verschont bleiben, doch andere Arbeitsplätze, die erst vor Kurzem ersetzt wurden, dürften durch die Pandemie endgültig wegfallen (Barrero, 2020). Je länger die Ausgangssperren und Kontaktverbote bestehen bleiben, desto wahrscheinlicher wird es, dass Gesellschaften die Automatisierung als Teil der neuen Normalität begreifen.

Somit dürften die Auswirkungen von Covid-19 weit über das Jahr 2020 hinaus reichen. Je früher die Gesellschaften im globalen Süden damit beginnen, über eine wünschenswerte Zukunft der Arbeit zu diskutieren, und je früher sie mit neuen politischen Maßnahmen experimentieren, desto stärker werden die entsprechenden Volkswirtschaften ihre Entwicklung selbst beeinflussen können. Die Ökonomen Richard Baldwin und Rikard Forslid plädieren für einen radikalen Wechsel hin zu einem dienstleistungsorientierten Entwicklungsmodell (Baldwin und Forslid, 2020).

Zur Bewältigung der langfristigen Krisenauswirkungen bedarf es auch einer Sanierung der öffentlichen Finanzen und der Einführung von sozialen Sicherungssystemen für die gesamte Bevölkerung, sodass auch Beschäftigte des informellen Sektors sowie neuartige Arbeitsplätze geschützt sind. Im Rahmen dieses Prozesses werden die Länder des globalen Südens möglicherweise auch ihre Vorstellung von Arbeit und gemeinnützigen Tätigkeiten ändern müssen.

Weitere Informationen

Quelle: Deutsches Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit, 20.07.2020