Dr. Rafaël Schneider über die Nachhaltigkeitsziele und Ernährungssicherheit

Sehr geehrter Herr Dr. Schneider, die Welthungerhilfe widmet sich seit über 50 Jahren dem Kampf gegen den Hunger. Wo liegen die Schwerpunkte Ihrer Arbeit im Bezug auf die Sustainable Development Goals (SDGs)?

RS: Eine Welt ohne Hunger ist kein Traum, auch keine Vision. Sie ist ein Menschenrecht. Über 70 Prozent der Hungernden leben in armen, ländlichen Regionen der Entwicklungsländer. Sie haben meist keinen Strom und auch keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen gibt es nur wenige und von schlechter Qualität. An Toiletten, Abwasser- und Müllsysteme ist gar nicht zu denken. Die Menschen in diesen Regionen sind Kleinbauern oder in der Landwirtschaft beschäftigte Landlose, die Ackerbau betreiben, Nutztiere halten und vielfach auch jagen und fischen gehen. Es ist eine unglaubliche Tatsache, dass die meisten von Hunger betroffenen Menschen ausgerechnet in der Landwirtschaft tätig sind. Die Förderung von kleinbäuerlicher Betriebe ist im zweiten Entwicklungsziel (SDG) der Agenda 2030 verankert. Ländliche Entwicklung ist nicht nur der wichtigste Baustein zur Überwindung des globalen Hungers, sondern auch zur Verwirklichung des Menschenrechts auf Nahrung. Genau hier setzt die Arbeit der Welthungerhilfe an: Bei der Förderung armer Kleinbauern hin zu modernen, ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltig wirtschaftenden bäuerlichen Landwirten. Ziel ist es, dass die Erträge nicht nur zur Selbstversorgung reichen, sondern auch Überschüsse ermöglichen, sodass Einkommen und dadurch auch neue Arbeitsplätze im ländlichen Raum geschaffen und gesichert werden können.

Begrüßen Sie die Erweiterung der Millennium Development Goals auf Themen der Politik, Umwelt und Wirtschaft oder befürchten Sie eine Abnahme der Relevanz der direkten Hungerbekämpfung?

RS: Weltweit werden genug Nahrungsmittel produziert, um alle Menschen ernähren zu können. Global gesehen reicht es – für alle! Nur reicht die physische Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln allein zur Bekämpfung des Hungers nicht aus. Zugang zu Nahrung hat, wer genug Geld hat. Nahezu überall auf der Welt.

In diesem Kontext ist die Überwindung von Hunger nicht mehr ausschließlich eine Frage der Produktion von Nahrungsmitteln, sondern zunehmend eine Frage der Schaffung von Gerechtigkeit geworden. Es beginnt vor Ort, bei den Kleinbauern: Ohne gerechten Zugang zu Land und Wasser ist keine Entwicklung möglich. Es geht auch um eine gerechte Regionalentwicklung, die verarmte ländliche Räume nicht ausgrenzt, sondern gerade dort Gesundheits-, Bildungs- und Verkehrsinfrastruktur fördert. Es geht um nationale Politiken, die allen Bürgerinnen und Bürger eine selbstbestimmte Entwicklung ermöglichen – ohne Diskriminierung aufgrund von Ethnie, Religion oder Hautfarbe. Es geht um die sozial gerechte Verwendung nationaler Budgets. Es geht um internationale Politiken, die eine gerechte Nutzung von Umweltressourcen sicherstellen und von Gewinnsucht getriebene Wirtschaftsstrategien regulieren müssen.

Die Millenniumsziele hatten einen zu engen Fokus auf arme und hungernde Menschen. Sie haben die strukturellen Ursachen von Hunger und Ungleichheit nicht adressiert. Sie haben auch die regionalen und internationalen Rahmenbedingungen nicht adressiert. Das korrigieren nun die SDGs. Sie gelten jetzt für alle Länder – denn nur gemeinsam können wir eine zukunftsfähige Welt schaffen. In diesem Sinne stellt die Agenda 2030 einen Weltzukunftsvertrag dar.

 Halten Sie die globale Ernährung durch ausschließlich faire, nachhaltige und ökologische Landwirtschaft für möglich und erstrebenswert? (Auch im Hinblick auf die steigende Weltbevölkerung)

RS: Natürlich muss die globale Ernährung auf einer fairen, nachhaltigen und ökologisch tragfähigen Landwirtschaft aufbauen, wenn sie zukunftsfähig sein soll. Nur: Wie schaut eine solche Landwirtschaft vor Ort aus? Das Idealbild einer nachhaltigen Landwirtschaft zeichnet sich aus durch die angepasste Nutzung lokaler Ressourcen unter Einsatz von erneuerbaren Energien, vorwiegend organischem Dünger und integrierten Nutzungssystemen, die einen hohen Grad an Rückführung von Nährstoffen erlauben. Ökologischer Landbau verzichtet auf den Einsatz Grüner Gentechnik, synthetischer Pestizide, chemischen und weitgehend auch mineralischen Düngers, lehnt Wachstumsbeschleuniger (Antibiotika, Hormone) ab, folgt hohen Tierschutzstandards und entspricht damit weitgehend dem Idealbild. Aber eine Schwarz-Weiß-Debatte ist nicht lösungsorientiert, denn innerhalb der konventionellen Landwirtschaft gibt es durchaus auch umweltfreundliche Formen. Hierbei werden moderne Produktionsmittel im Pflanzenbau und in der Tierhaltung verwendet, dabei aber Prinzipien für Umweltschutz und nachhaltige Ressourcennutzung sowie ethische Normen für den Schutz der Tiere respektiert. Die verschiedenen Formen nachhaltiger Landwirtschaft verwenden im Rahmen ihrer jeweiligen spezifischen Standards und Regeln verbessertes Saatgut sowie Bewässerung und Mechanisierung als Instrumente der Ertragssteigerung und -stabilisierung. De facto muss jeweils lokal bzw. regional entschieden werden, welcher Methodenmix am ehesten den Anforderungen einer standortgerechten Landwirtschaft entspricht und dadurch am wirksamsten zur Armuts- und Hungerbekämpfung beiträgt.

Haben Sie Wege gefunden den konkreten Beitrag der Welthungerhilfe an der Erfüllung der SDGs zu messen?

RS: Die Erfüllung der SDGs ist eine Gemeinschaftsaufgabe – wir stehen alle in der Pflicht: Sie, ich, die Parteien, unsere Regierung und auch Nichtregierungsorganisationen wie die Welthungerhilfe. Nur gemeinsam werden wir eine Transformation hin zu zukunftsfähigen Gesellschafts- und Wirtschaftsform schaffen. Nimmt man dieses Zusammenspiel ernst wird es sehr schwierig, einen Einzelbeitrag zu messen. Nur als Gemeinschaftswerk kann nachhaltige Entwicklung gelingen. Was wir natürlich tun, ist die Wirkung unserer Projektarbeit in den Hungerregionen regelmäßig durch Monitoring und Evaluationen zu überprüfen. Wir überprüfen auch jährlich anhand von Schlüsselindikatoren die Fortschritte unserer Arbeit. Dadurch können wir unseren direkten Beitrag zur Armutsreduzierung und Ernährungssicherung einschätzen. Wir überprüfen aber auch die weltweiten Fortschritte: Als Mit-Herausgeber des Welthunger-Index stellen wir jährlich dar, wie sich die Lage global entwickelt und welche Länder in der Hungerbekämpfung auf Kurs sind – und eben auch welche nicht. Damit stoßen wir politische Debatten an, um das Engagement in der Hungerbekämpfung auszubauen.

Was motiviert Sie morgens und wie denken Sie abends darüber nach?

RS: Ich habe mehrere Jahre in Afrika gelebt und über viele Jahre hinweg Projekte vor allem in Afrika und Asien begleitet. Dadurch habe ich viele Menschen kennengelernt: Sehr arme Menschen auf dem Land bis hin zu engagierte lokalen Verfechtern von Menschenrechten. Diese Menschen, ihre Gesichter, ihre Stimmen, ihr Mut und sehr oft auch ihr Optimismus – das ist mehr als genug Motivation, sich für deren Rechte einzusetzen. Erfolge darin gibt es bei weitem nicht jeden Tag. Die entwicklungspolitische Arbeit gleicht hier jener eines Kleinbauern: Trotz bester Bestellung eines Feldes gibt es Schädlinge und Dürren, die zu Missernten führen. Das ist aber kein Grund aufzugeben. Manchmal übertrifft die Ernte auch die Erwartungen. Je nachdem gibt es abends ein gutes Gefühl, einen kleinen Beitrag zur Hungerbekämpfung geleistet zu haben – oder es stellt sich die Frage, wie man entwicklungspolitische Missernten in Zukunft noch besser vermeiden kann.

Welche Frage würden Sie gerne einmal beantworten, die Ihnen noch nie gestellt wurde?

RS: Wie – das ist schon alles, was Sie mich über den Hunger in der Welt fragen wollten? Keine weiteren Fragen zu Mangelernährung, Biokraftstoffen, Land Grabbing, Klimawandel, Regierungsführung, Welthandel, Fleischkonsum, Lebensmittelmüll, Klimawandel oder gar Nahrungsmittelspekulation? Wann interviewen Sie mich denn wieder?

Weitere Informationen über die Arbeit der Welthungerhilfe zu den SDGs finden Sie hier: http://www.welthungerhilfe.de/nachhaltigkeitsziele/

Das Interview führte Thomas Hollekamp.