[:en]DIE: Die aktuelle Kolumne | Drei Irrtümer in der Afghanistan-Debatte: Warum Deutschland jetzt erst recht Demokratie fördern sollte[:de]DIE: Die aktuelle Kolumne | Drei Irrtümer in der Afghanistan-Debatte: Warum Deutschland jetzt erst recht Demokratie fördern sollte[:]

Demokratie zu schützen und zu fördern muss eine außen- und entwicklungspolitische Priorität der nächsten Bundesregierung sein. Diese Aussage mag angesichts der Kritik am übereilten Truppenabzug aus Afghanistan verwundern. Doch auch wenn vieles an der Kritik richtig ist, gibt es in der aktuellen öffentlichen Debatte mindestens drei Irrtümer über Demokratieförderung.

Erster Irrtum: Demokratie mit militärischer Gewalt etablieren zu wollen, sei die Standardpolitik „westlicher“ Geberländer. Nein. Militärmissionen mit einem Demokratiemandat sind die Ausnahme in der Demokratieförderung, nicht die Regel. Doch gilt die Medienaufmerksamkeit häufig gerade diesen Fällen, weil sie teuer und kontrovers sind. Aber vom Einzelfall auf die Gesamtheit zu schließen, ist falsch. Demokratieförderung kommt oft leise daher, eingebettet in einen entwicklungs- und außenpolitischen Kontext. Dazu gehören etwa die Beratung von Verfassungsgebungsprozessen, Richterausbildungen oder die Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Gruppen.

Zweiter Irrtum: Demokratie könne in nichtwestliche Kulturen nicht „exportiert“ werden. Es ist richtig, dass Demokratie nicht einfach als Blaupause übertragen werden kann. Aber Staaten wie Deutschland können prodemokratische Kräfte in anderen Ländern dabei unterstützen, eigene Modelle für einen friedlichen und pluralistischen Interessenausgleich zu entwickeln. Oft sind das nicht die Regierenden, weil sie fürchten ihre Macht zu verlieren. Wo Eliten eher für Autokratisierung stehen, ist es schwierig, aber nicht unmöglich demokratische Werte und Praktiken zu unterstützen. Jüngst belegte eine Studie, dass internationale Demokratieförderung in der Summe der Fälle wirksam ist. Afghanistan ist also auch hier die Ausnahme, nicht die Regel.

Dritter Irrtum: Liberale Demokratien hätten keine oder kaum Unterstützer in nichtwestlichen Gesellschaften. Menschen gehen weltweit auf die Straße, um sich für Freiheit einzusetzen und gegen staatliche Unterdrückung zu wehren. Wir müssen zwischen denen unterscheiden, die sich für eine pluralistische Gesellschaft einsetzen und jenen, die demokratische Reformen verhindern, um ihre Macht zu bewahren. Auch in Afghanistan forderten und fordern Menschen ein demokratisches Zusammenleben. Vorhandene Untersuchungen deuten darauf hin, dass Afghan*innen die Taliban mehrheitlich ablehnen.

Die Debatte über internationale Demokratieförderung war längst überfällig. Demokratie ist ein immerwährender Aushandlungsprozess über die Werte und Regeln, die eine Gesellschaft tragen. Das schafft Konflikte. Auch in gestandenen Demokratien wie Deutschland oder den USA bröckelt derzeit der gesellschaftliche Konsens über die Werte und institutionelle Ordnung, die uns zusammenhalten. Zu dieser Diskussion gehört auch die Frage, für welche demokratischen Werte Deutschland und Europa in der Welt stehen und wie sie diese international fördern können. Die nächste Bundesregierung wird diese Auseinandersetzung konstruktiv führen müssen. Konkretes Beispiel: das Demokratiefördergesetz, das in der kommenden Legislaturperiode verabschiedet werden sollte und dringend eine internationale Perspektive braucht.

Die entscheidende Frage ist nicht ob, sondern wie Deutschland Demokratie fördert. Noch wichtiger als konkrete Strategien ist die grundsätzliche politische Haltung, die hinter ihnen stecken sollte: Geduld und Demut. Außenpolitisch bedeutet Geduld, all jene weiter zu unterstützen, die sich in der Vergangenheit an der Seite Deutschlands für Demokratie eingesetzt haben – neben jenen, die es gegenwärtig und in Zukunft tun. Demut heißt, die Demokratieprobleme in Deutschland und Europa offen anzuerkennen und als Ausgangspunkt für einen konstruktiven Austausch zu nutzen, anstatt demokratische Blaupausen zu bemühen. Innenpolitisch muss die deutsche Politik – wie jüngst in der ZEIT formuliert – ihren Bürger*innen mehr zumuten. Sie muss offen kommunizieren, dass Demokratieförderung – wie auch militärische Einsätze – eine Risikoinvestition ist. Demokratisierung ist immer ein ergebnisoffener Prozess. Das Wirken Deutschlands kann einen Beitrag leisten, ihn aber nie garantieren.

Wir, die wir Politik beraten und evaluieren, sollten uns für eine bessere Lernkultur einsetzen. Wir müssen gute Vorschläge machen, wie Demokratieförderung und Auslandseinsätze besser werden können – auch im Kontext der Mission in Mali, die angemessen mit Demokratieförderung flankiert sein will. Beispielweise wissen wir im Falle Afghanistans seit langem, dass die Förderung eines zentralistischen Modells angesichts starker lokaler Machtstrukturen auf Dauer nicht trägt. Die damit verbundenen Fehler wären vielleicht nicht passiert, wenn Gelder auch geflossen wären, wenn Fehler erkannt und benannt worden wären anstatt vor allem Wirkungen demonstrieren zu müssen. Auch ganzheitliche Evaluierungen wären notwendig, um die verschiedenen Elemente internationaler Politik – Stabilisierung, Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung – zu bewerten.

Die Machtübernahme der Taliban wird vor allem den Verfechtern der Autokratie in die Hände spielen. Sie werden argumentieren, dass Demokratisierung zu Instabilität führte, und verschweigen, dass nachhaltiger Frieden langfristig nur in einem politischen System möglich ist, das gewalt- und repressionsfreien Interessenausgleich schafft. Angesichts zunehmender Autokratisierungstrends wird der Einsatz der nächsten Bundesregierung für Demokratie weltweit auch die Zukunft der Demokratie in Deutschland und Europa selbst beeinflussen.

Weitere Informationen

Quelle: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne, Julia Leininger, 30.08.2021