Das Ziel der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt (NBS), bis 2020 fünf Prozent der Waldfläche Deutschlands der natürlichen Waldentwicklung (NWE) zu überlassen, ist trotz eines deutlichen Anstiegs noch nicht erreicht. Dies zeigt eine aktuelle Bilanz der Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt (NW-FVA), die im Rahmen eines vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) mit Mitteln des Bundesumweltministeriums geförderten Forschungs- und Entwicklungsvorhabens erstellt wurde.
Demnach kann sich der Wald in Deutschland zum Ende des Jahres 2020 auf rund 355.000 Hektar dauerhaft ohne direkte menschliche Eingriffe entwickeln. „Das entspricht einem Anteil von 3,1 Prozent der Waldfläche in Deutschland und liegt damit noch deutlich unter dem in der Nationalen Strategie für die Biologische Vielfalt für das Jahr 2020 angestrebten Zielwert von fünf Prozent. Waldflächen, die prinzipiell von hohem Wert für den Naturschutz und gleichzeitig nur schwer zu bewirtschaften sind, sollten deshalb beispielsweise verstärkt in den Fokus rücken“, erläutert Prof. Dr. Beate Jessel, Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz. Dr. Thomas Böckmann, Leiter der Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt, ergänzt: „Unsere Prognosen zeigen aber auch, dass wir in den kommenden Jahren einen weiteren Zuwachs auf ca. vier Prozent erwarten können“. Seit April 2020 führt die NW-FVA das Vorhaben mit dem Titel „Natürliche Waldentwicklung in Deutschland – operationale und systematische Ergänzung der bestehenden Flächenkulisse“ (NWeos) mit dem Ziel durch, den Prozess zum Erreichen des Fünf-Prozent-Zieles weiter zu verbessern.
Im Rahmen des Vorhabens soll die Suche nach neuen potenziellen NWE-Flächen vereinfacht werden, etwa mithilfe eines Entscheidungsunterstützungssystems, das auf Grundlage eines räumlichen Modells für NWE-Potenzialflächen und eines Praxisleitfadens entwickelt werden soll. Darüber hinaus werden Lösungen für die zahlreichen praktischen Fragen bei der Umsetzung von natürlicher Waldentwicklung erarbeitet und in Form von Praxishilfen aufbereitet.
Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt
2007 hat das Bundeskabinett die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt (NBS) beschlossen. Damit wurde erstmals in Deutschland eine umfassende und zugleich anspruchsvolle Strategie zur Umsetzung des UN-Übereinkommens über die biologische Vielfalt vorgelegt. Mit der Verwirklichung von rund 330 Zielen und 430 Maßnahmen sollte der Rückgang der biologischen Vielfalt aufgehalten werden. Als ein wesentliches Ziel für den Lebensraum Wald wurde angestrebt, dass sich bis zum Jahr 2020 fünf Prozent der Waldfläche natürlich entwickeln können.
Wälder mit natürlicher Entwicklung
Wälder mit natürlicher Entwicklung im Sinne der NBS erfüllen bestimmte Mindestanforderungen: Eine direkte Einflussnahme des Menschen soll durch die rechtsverbindliche und dauerhafte Aufgabe der forstlichen Nutzung und von naturschutzfachlichen Pflegeeingriffen auf einer zusammenhängenden Fläche von mindestens 0,3 Hektar so weit wie möglich ausgeschlossen werden. Als NWE gelten auch noch nicht bewaldete, jedoch der natürlichen Sukzession überlassene waldfähige Standorte, wie zum Beispiel ehemalige Truppenübungsplätze.
Forschungsvorhaben NWeos
Anhand dieser Kriterien hat die NW-FVA mit Förderung des BfN bereits für die Jahre 2013 und 2019 Bilanzen über die natürliche Waldentwicklung in Deutschland vorgelegt. Während 2013 ein NWE-Anteil von 1,9 Prozent ermittelt wurde, erhöhte sich dieser bis zum Jahr 2019 auf 2,8 Prozent und lag Ende 2020 bei 3,1 Prozent. Den Bilanzierungen liegen standardisierte, bundesweite Abfragen zu NWE-Flächen bei zahlreichen Akteuren wie Landesforstbetrieben, Schutzgebietsverwaltungen, Behörden der Forst- und Naturschutzverwaltung, Waldbesitzerverbänden, Stiftungen und Naturschutzorganisationen zugrunde.
Seit April 2020 führt die NW-FVA das Vorhaben NWeos mit dem Ziel durch, den Umsetzungsprozess für die Erreichung des Fünf-Prozent-Ziels weiter zu verbessern. Hierzu wird ein Entscheidungsunterstützungssystem für die Identifikation von NWE-Flächen auf der Grundlage eines räumlichen Modells für NWE-Potenzialflächen und eines Praxisleitfadens entwickelt. Auf NWE-Potenzialflächen findet mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits eine natürliche Waldentwicklung statt, die jedoch nicht verbindlich dauerhaft gesichert ist. Für eine Vergrößerung der NWE-Fläche sind diese Potenzialflächen gut geeignet, weil meist das Nutzungsinteresse gering ist bei einem gleichzeitig hohen naturschutzfachlichen Wert.
Neben der Auswahl ist für Waldbesitzer auch die Betreuung von NWE-Flächen ein Themenkomplex, der häufig Fragen aufwirft. Im NWeos-Vorhaben werden hierzu in Workshops Konfliktstellungen identifiziert und Lösungswege für den konkreten Umgang mit NWE in der Forst- und Naturschutzpraxis abgeleitet. Die Ergebnisse der Workshops sind die Basis für einen Praxisleitfaden zur Auswahl und Betreuung der NWE-Flächen. Die Erarbeitung von Entscheidungshilfen beruht zu einem wesentlichen Teil auch auf den Erfahrungen der öffentlichen Forstbetriebe, die z. T. seit Jahrzehnten NWE-Flächen einrichten und betreuen. Zudem werden die Themenkomplexe rechtliche Sicherung und Fördermöglichkeiten in Form einer Synopse aufbereitet. Auch hier gehen neben der einschlägigen Literatur die Erkenntnisse aus den Workshops ein.
Quelle: Bundesamt für Naturschutz (BfN), 21.07.2021