Der diesjährige Weltflüchtlingstag gibt wenig Anlass, optimistisch auf das Thema Flucht und Vertreibung zu blicken: In den letzten zehn Jahren hat sich die Anzahl der Geflüchteten weltweit verdoppelt. Was aber können wir anders machen, um – wie gerade von der Entwicklungspolitik angestrebt – Fluchtursachen zu mindern? Wir müssen zunächst die Art und Weise hinterfragen, wie Politik und Gesellschaft in Deutschland über Flucht und ihre Ursachen diskutieren.
Ein Blick auf Zeitungsartikel, Redebeiträge oder öffentliche Diskussionen zum Thema Fluchtursachen zeigt: Es wimmelt nur so von Fehlvorstellungen und Mythen. Dazu zählt die Annahme, dass Europa am Anfang einer Zuwanderungswelle aus Afrika oder anderen Teilen des globalen Südens von gigantischem Ausmaß stünde. Begrifflichkeiten wie „Völkerwanderung“ oder „Massenmigration“ sind nicht nur am rechten Rand schnell zur Hand. Menschliche Mobilität wird zu einer pauschalen Bedrohung und häufig werden Migration und Flucht gar nicht mehr unterschieden. Auch die Ursachen von Migration oder Flucht werden in Politik und Medien stark simplifiziert: Einzelne Faktoren wie Armut, Bevölkerungswachstum, die Corona-Pandemie oder der Klimawandel werden schnell und gerne als Hauptgründe für Flucht herangezogen. Die erzwungene Migration ist in einer solchen Betrachtungsweise zwangsläufig das Ergebnis eines einfachen Reiz-Reaktions-Schemas: je höher die Armut oder je heftiger die Auswirkungen des Klimawandels, desto mehr Flucht – fertig ist die Fluchtarithmetik!
Ein Blick auf die Forschungslage jedoch zeigt: Flucht und Migration haben sehr komplexe und vielschichtige Ursachen, die politischer, sozialer, ökonomischer und ökologischer Natur sind. Auch bei der Frage, was Flucht und Vertreibung in den Ländern Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas eigentlich mit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise im globalen Norden zu tun hat, sollten wir uns von einem simplen Benennen von „Hauptschuldigen“ hüten. Kolonialismus oder historische Treibhausgasemissionen der OECD-Länder etwa haben sicherlich einen Anteil an vielen Fluchtprozessen im globalen Süden. Dafür müssen wir Verantwortung tragen – aber gleichzeitig entlässt dies lokale Eliten nicht aus ihrer Verantwortung. Das heißt auch, dass Fluchtursachen in erster Linie von den betroffenen Ländern selbst bewältigt werden muss. Entwicklungspolitik kann nur unterstützen. Und auch wenn sich etwa bei der aus europäischer Sicht irregulären Migration aus Subsahara-Afrika klassische Migrationsmotive (z.B. das Streben nach besseren wirtschaftlichen Perspektiven) mit tatsächlichen Fluchtgründen (z.B. Konflikte) vermischen: Das hektische Verlassen eines Bürgerkriegslandes ist wahrlich nicht vergleichbar etwa mit dem Antreten einer neuen Stelle im Ausland. Auch muss man sich immer wieder vor Augen führen, dass ein Großteil der weltweiten Migrations- und Fluchtbewegungen innerhalb des globalen Südens stattfindet (z.B. innerhalb West-Afrikas). Nicht zuletzt verhindert die in diesen Regionen verbreitete Armut größere Migrationsbewegungen in Richtung Europa. Aber auch bei dieser Süd-Süd-Migration ergeben sich durchaus positive wirtschaftliche Impulse: Geldsendungen von Migrierenden an ihre Familien in die Herkunftsländer sind ein globaler Wirtschaftsfaktor, der Millionen von Haushalten im globalen Süden bessere Lebensgrundlagen ermöglicht.
Fluchtursachen lassen sich nicht reduzieren, indem man ihre Komplexität reduziert. Mythen und Pauschalisierungen bieten vermeintlich einfache Erklärungen und sprechen Menschen emotional an. Die Vielschichtigkeit menschlicher Mobilität und ihrer Ursachen, Konsequenzen und Begleitumstände macht aber differenziertere Betrachtungsweisen notwendig. Politik, Medien und Gesellschaft sollten sich auf eine tiefgründigere Auseinandersetzung einlassen. Auch muss die Politik den häufig geäußerten Vorsatz „Fluchtursachen bekämpfen, aber nicht Flüchtlinge“ ernst nehmen. Das bedeutet: sich gleichzeitig für eine Reduktion der Fluchtursachen und eine bessere Unterstützung von Geflüchteten in den Hauptaufnahmeländern und für eine Migrations- bzw. Zuwanderungspolitik einzusetzen, die dem Interessensausgleich aller Beteiligten verpflichtet ist. Hier ist auch die Innenpolitik gefragt. Ein Festhalten an holzschnittartigen (Fehl-)Annahmen führt leicht zu politischen Trugschlüssen, Enttäuschungen oder gegenläufigen Entwicklungen. Ein Beispiel ist hier der EU-Treuhandfonds für Afrika (EUTF), der stark auf der Annahme fußt, dass nicht zuletzt Maßnahmen der Wirtschaftsförderung und Grenzsicherung irreguläre Migration und Flucht verhindern. Leider stellen wachsende Zahlen von Geflüchteten in der EUTF-Schwerpunktregion Sahel diese Annahme durchaus in Zweifel. Wenn wir also die Mythen der „Fluchtursachenbekämpfung“ nicht stärker hinterfragen, dann helfen auch keine noch so ausgefeilten Beiträge für eine bessere „Fluchtursachenbekämpfung“, wie etwa die vor wenigen Wochen veröffentlichten Empfehlungen der „Fachkommission Fluchtursachen“ der Bundesregierung.
Quelle: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne, Benjamin Schraven, 21.06.2021