Deutschland hinkt seinen Klimazielen hinterher. Der Bürgerrat Klima, ein Pilotprojekt partizipativer Demokratie, greift der Regierung unter die Arme und hat gestern, am 24. Juni 2021, seine Empfehlungen vorgelegt.
Drei Stunden dauerte die zwölfte und letzte Sitzung des Bürgerrats Klima am Mittwochabend. Bevor sich die Teilnehmenden mit viel Online-Applaus und vielen winkenden Händen voneinander verabschiedeten, hatten sie Empfehlungen verabschiedet – darüber, wie Deutschland seinen Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommens doch noch nachkommen kann. Herausgekommen sind mehr als 80 Ratschläge an die deutsche Bundesregierung.
“Es war ein Haufen Arbeit. Ich glaube wir haben gute Arbeit geleistet, was die Empfehlungen angeht, der Rest liegt an der Politik” , sagt Teilnehmer Adnan Arslan. Die DW hatte den 32-jährigen Fertigungssteuerer aus Velbert während der Sitzungen begleitet.
“Ich bin jetzt schon geschafft. Es war nicht immer leicht, auf den gleichen Nenner zu kommen. Aber wir haben es geschafft und viel Konsens erreicht. Da bin ich froh drüber.”
Die 160 Teilnehmenden des Experiments Bürgerrat Klima waren per Losverfahren und anhand demografischer Daten, wie Alter, Bildungsstand, Herkunft nach Bundesland oder Migrationshintergrund ausgewählt worden. Politische Einstellungen spielten keine Rolle.
Sie sollten das Land im Kleinen abbilden und erarbeiteten Lösungen, wie Deutschland in den Bereichen Energie, Mobilität, Bau und Ernährung ambitioniertere sowie sozial, ökologisch und wirtschaftlich faire Klimaziele umsetzen könnte. Bei ihren Diskussionen wurden die Teilnehmer von einem Expertengremium aus Wissenschaftlern unterstützt.
Empfehlung – ernst machen
Dabei herausgekommen ist ein Empfehlungskatalog an die Bundesregierung, der es in sich hat.
Im Bereich Energie stimmte die Mehrheit für einen Kohleausstieg bis zum Jahr 2030, statt wie bisher geplant, bis 2038. Laut Bürgerrat soll ab 2022 schrittweise eine Pflicht für Photovoltaikanlagen auf Dächern eingeführt werden.
Bis 2035 soll der gesamte Strom in Deutschland aus erneuerbaren Energiequellen stammen, ebenfalls soll es ein Recht darauf geben, “grünen” Strom billiger beziehen zu können als solchen aus Erdöl, Erdgas oder Kohle. Passend dazu soll ab 2026 die Installation von Öl- und ab 2028 die von Gasheizungen in Gebäuden verboten werden.
Elektronische Geräte sollen so produziert werden, dass sie mindestens zehn Jahre lang halten – das würde ständige Neuanschaffungen und den damit verbundenen Ressourcenverbrauch vermeiden.
Drastisch wird es im Bereich Mobilität: Neben dem massiven Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs, also Bussen und Bahnen, sowie des Güterverkehrs auf Schienen, fordert die Mehrheit der Teilnehmer, dass ab spätestens 2030 keine Erstzulassungen von Verbrennungsmotoren mehr möglich sein sollen. Subventionen für den Autoverkehr müssten abgebaut und der Radverkehr ausgebaut werden.
Die Landwirtschaft soll nach Wunsch der Teilnehmer von einem Emissionstreiber zu einem aktiven Teil einer Klimalösung werden. Subventionen sollen dafür nach der Klimafreundlichkeit der Betriebe vergeben werden, nicht wie bisher nach ihrer Größe. Die deutschen Nutztierbestände müssten reduziert werden. In der Konsequenz hieße das, weniger Wurst oder zumindest höhere Preise für den Grillabend. Außerdem solle eine Klima-Ampel auf Lebensmittelverpackungen eingeführt werden, so das Gremium.
Einnahmen aus einer umfassenden CO2-Bepreisung der Wirtschaft und Konsumgütern könnten über eine Klimadividende und Steuererleichterungen je nach Einkommen für soziale Gerechtigkeit bei der Klimawende sorgen. “Mir ist wichtig, dass die soziale Gerechtigkeit nicht unter der Klimapolitik leidet. Das steht bei mir an Nummer eins”, sagt Arslan. Diese Einstellung ist breiter Konsens unter den 160 Teilnehmenden.
Das alles ließt sich wie ein großartiges Wunschkonzert. Das ist es aber nicht, findet Wolfgang Lucht vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Er hat das Gremium als Experte fachlich begleitet. “Die Klimakrise ist eine Menscheitsaufgabe, eine Jahrhundertaufgabe”, so Lucht und ergänzt: “Die Ergebnisse des Bürgerrat Klima spiegeln nicht die Ansichten einer Interessengruppe […] Sie sind das Ergebnis eines freien Aushandlungsprozesses in Arbeitsgruppen.”
Warum reicht Deutschlands Klimaschutz noch nicht aus?
Die Bundesregierung hatte erst kürzlich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ihre Klimaziele nachgebessert und angekündigt, schon 2045 Klimaneutralität erreichen zu wollen – fünf Jahre früher als ursprünglich geplant. Wie dies im Detail umgesetzt werden soll, bleibt eher unkonkret.
Bisher wurde aus Berlin für 2022 ein Sofortprogramm mit einem Fördervolumen von bis zu acht Milliarden Euro für die Umsetzung angekündigt. Der Großteil der Einsparungen soll aus Industrie und dem Energiesektor kommen, den bisher größten Emittenten. Dieses frühere Netto-Null-Ziel reicht aus Sicht des Bürgerrats und Umweltexperten aber noch nicht aus.
Denn: Bei der Erwärmung des Planeten kommt es nämlich auf die Gesamtmenge der Treibhausgase in der Atmosphäre an, nicht darauf, wann welches Land klimaneutral wird.
Im Sinne einer globalen Verteilungsgerechtigkeit schlägt der Sachverständigenrat in Umweltfragen (SRU) deshalb vor, Ländern je nach Bevölkerungsgröße ein CO2-Budget zuzuweisen. Deutschlands Klima-Budget für das 1,5-Grad-Ziel läge demnach in etwa bei vier Milliarden Tonnen CO2 und wäre bis 2032 aufgebraucht. Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen, käme daher immer noch 13 Jahre zu spät, so die Experten.
“Es reicht nicht, sich Ziele in der fernen Zukunft zu setzten, es müssen sofort Emissionen reduziert werden”, so Klimaexperte Niklas Höhne vom NewClimate Institute zur DW. Wird dieses weltweite CO2-Budget einmal überschritten, ist das im Pariser Klimaabkommen vereinbarte 1,5-Grad-Ziel nicht mehr zu erreichen.
Damit das nicht passiert, “müssen globale Treibhausgasemissionen von heute bis 2030 halbiert werden. Deutschland hat eine besondere Rolle als eines der reichsten Länder der Welt mit doppelt so hohen Emissionen pro Kopf wie der globale Durchschnitt”, so Höhne weiter.
Wie realistisch ist die Umsetzung?
Deshalb sei es umso wichtiger, dass Deutschland nun schnell und entschlossen handele, so die Nachricht des Bürgerrats.
“Im Moment haben wir das Problem, das wir immer noch in Einzelmaßnahmen denken. Natürlich ist auf der gesamtstaatlichen Ebene der möglichst schnelle Ausstieg aus der Kohleverstromung, das was am schnellsten am meisten bringt”, sagt Wolfgang Lucht. Klar sei, dass alle diskutierten Bereiche viele Emissionen verursachten und eine Transformation benötigten.
Der Rat habe gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland dazu bereit sind erhebliche, zielführende, weitgehende Maßnahmen zur Begrenzung der Klimakrise mitzutragen, so Lucht weiter.
Eine Umfrage des ARD-DeutschlandTrends Anfang Juni zeigt, dass die Mehrheit der Deutschen findet, dass sowohl die Bürgerinnen und Bürger, als auch die Bundesregierung und die EU beim Umwelt- und Klimaschutz zu wenig unternehme. Mit höheren Flugpreisen könnte sich die Mehrheit anfreunden, bei einer Verteuerung der Lebensmittelpreise bei Milch und Fleischprodukten schmilzt die Zustimmung aber bereits.
Will Deutschland beim Klimaschutz wirklich ernst machen, könnte man “einen Sektor nicht gegen den anderen ausspielen, alle müssen ran”, ergänzt Niklas Höhne.
Aber: Die Empfehlungen des Bürgerrats Klima sind nicht bindend. Die zivilgesellschaftliche Aktion ist nicht zu vergleichen mit einem offiziellen Bürgerbegehren oder einer Volksabstimmung. Zwar wurden Politiker und Politikerinnen bereits in die Diskussionsrunden eingeladen und involviert, aber ob und wann wie viele Empfehlungen tatsächlich in die Tat umgesetzt werden, ist völlig offen.
Vorbild Irland
Dass Bürgerräte funktionieren und eine wichtige Funktion bei gesellschaftlicher Veränderung haben können, zeigt das Beispiel Irland. Dort hatten Bürgerräte erreicht, dass gleichgeschlechtliche Ehen legalisiert wurden. 2019 verabschiedete die Regierung auf Anregung des 99-köpfigen Bürgerrates mehrere Reformen mit dem Ziel, den Kohlendioxid-Ausstoß bis 2030 um 51 Prozent zu reduzieren. Dazu gehörte unter anderem die Empfehlung “sicherzustellen, dass der Klimawandel im Zentrum der Politik steht”, was sich auf alle Bereiche von sauberer Energie über elektrische Fahrzeuge oder die Sanierung von Gebäuden bezieht.
Bürgerräte sind “eine große Chance […] diese gefühlte Entkopplung zwischen Bürger und Bürgerinnen und dem politischen Prozess zu überwinden und gegenseitig Akzeptanz zu schaffen oder Verständnis”, sagt Okka Lou Mathis, Politikwissenschaftlerin am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass sie besonders geeignet seien, um kontroverse, spaltende und umstrittene Themen zu diskutieren “wo vielleicht auch die Politik oftmals nicht weiter weiß oder die Lager zerstritten sind”, so Mathis.
Von den Vorschlägen des Bürgerrats in Frankreich hingegen wurden weniger als die Hälfte im neuen Klimagesetz umgesetzt, obwohl Präsident Macron im Vorfeld angekündigt hatte, die Ergebnisse “ungefiltert” übernehmen zu wollen. In Deutschland werden die Empfehlungen noch vor der Bundestagswahl im September offiziell an die deutsche Regierung übergeben.
Quelle: Deutsche Welle, Tim Schauenberg, 24.06.2021