Heute vor 10 Jahren begann der Bürgerkrieg in Syrien. In Die aktuelle Kolumne erörtern Tina Zintl und Yannik Sudermann, warum der Wiederaufbau so problematisch ist und geben Beispiele, wie Geber weiterhin Bedürftige auf allen Seiten erreichen können.
Am 15. März 2011 begannen im südsyrischen Deraa friedliche Demonstrationen gegen das Assad-Regime, welches die Proteste blutig niederschlug. Dies markierte den Beginn des syrischen Bürgerkriegs. Innerhalb eines Jahrzehnts wurden große Teile des Landes zerstört, die Auswirkungen auf die Nachbarländer sind wegen der hohen Flüchtlingszahlen immens. Mittlerweile gilt die herrschende Assad-Clique als militärisch siegreich, dennoch steht rund ein Drittel des syrischen Staatsgebiets außerhalb ihrer Kontrolle. Die wirtschaftliche und humanitäre Lage spitzt sich durch eine galoppierende Inflation und COVID-19 immer weiter zu. Rund 90 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Es kommt wieder zu offenen Protesten gegen das Regime.
Syriens ursprünglicher, von jeher ungleicher Gesellschaftsvertrag ist durch den Krieg implodiert. Assad verschärft die Situation, indem er auf einen „Eliten-Vertrag“ setzt, der ausschließlich Loyalisten und Kriegsgewinnler einschließt. Allen anderen Syrer*innen entzog er sukzessive staatlichen Schutz und Daseinsvorsorge. Politische Teilhabe hatte es ohnehin nie gegeben. Während die internationale Gemeinschaft mit der Agenda 2030 darum ringt, niemanden zurückzulassen, betreibt Syriens Machthaber die Exklusion aller (vermeintlich) Andersdenkenden.
Am problematischsten für den zukünftigen Wiederaufbau ist der fehlende Schutz von Grundbesitz. Das Eigentumsgesetz von 2018 bereitet den Boden für Enteignungen und treibt dadurch die Entrechtung „unerwünschter” Bevölkerungsteile voran. Nur ein Bruchteil der Geflüchteten führt gültige Identifikations- oder Eigentumsnachweise mit sich. Letztere gab es in informellen Siedlungen ohnehin oft nicht. Doch nur mit entsprechenden Dokumenten können Betroffene innerhalb eng gesetzter Fristen Eigentumsansprüche geltend machen. Damit orientiert sich staatliche Wiederaufbauhilfe vornehmlich an der Loyalität der Betroffenen gegenüber Assad, nicht am Grad der Zerstörung eines Stadtviertels. Mitunter werden ganze Bezirke, meist ehemalige Rebellenhochburgen, zugunsten von Luxuswohnraum abgerissen.
Zudem macht sich die fehlende staatliche Schutzfunktion ausgerechnet bei sogenannten „Aussöhnungsabkommen“ in zurückeroberten Gebieten und am Rechtsstatus ehemaliger Kämpfer*innen bemerkbar: Beides wird vom Regime diktiert – wer den Bedingungen nicht zustimmte, wurde in die Region Idlib, jetzt ein Sammelbecken für Oppositionelle, umgesiedelt – und dient weniger der Konfliktbeilegung als der staatlichen Machtdemonstration. Denn auch gültige Aussöhnungspapiere bieten keinen Schutz; nachweislich werden immer wieder vermeintlich rehabilitierte Personen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, inhaftiert und gefoltert, zwangsrekrutiert oder ermordet. Dokumente, die während des Krieges etwa durch den Islamischen Staat (IS) oder die Syrische Übergangsregierung ausgestellt wurden, werden von der Assad-Regierung nicht anerkannt. Sie bieten keine juristisch garantierte Wiedereingliederung in den syrischen Gesellschaftsvertrag.
Auch viele Personen, die ununterbrochen auf syrischem Staatsgebiet und im politisch „richtigen“ Lager lebten, spielen in Assads Syrien allenfalls noch eine nachgeordnete Rolle: Das Regime ist finanziell und politisch von wenig verlässlichen ausländischen Partnern und einer Handvoll Wirtschaftsmagnaten – Kriegsprofiteure mit guten Kontakten in die Politik – abhängig. Assads Fokus auf finanzstarke Stakeholder liegt an Syriens klammen Kassen: ein Jahrzehnt horrender Militärausgaben, Zerstörung produktiver Infrastruktur sowie der Verlust wichtiger Rohstoffvorkommen haben ein tiefes finanzielles Loch gerissen. Ob Immobilien, Agrarflächen, Rohstoff-Förderung oder Pachtverträge für Marine- und Luftwaffenbasen: Syriens Regime verkauft offensichtlich das Tafelsilber, um langjährige Getreue und Bündnispartner zu entlohnen.
Dies treibt die westliche Staatengemeinschaft in eine Zwickmühle: Dringend benötigte Hilfen für die notleidende Zivilbevölkerung werden zuweilen vom regimenahen Organisationen abgeschöpft. So können bereits begonnene Rehabilitationsmaßnahmen städtischer Infrastruktur Assads hochexklusiven Gesellschaftsvertrag sogar noch zementieren, nicht zuletzt da die syrische Bauwirtschaft von Assads Protegés dominiert wird.
Dennoch müssen Geber weiterhin versuchen, Bedürftige auf allen Seiten zu erreichen. Eben wegen ihrer beschränkten Einflussmöglichkeiten sollten sie ihr gesamtes außenpolitisches Handeln (Diplomatie, Zusammenarbeit, Migrationspolitik) eng und möglichst widerspruchsfrei koordinieren. Sie müssen im Blick behalten, welche staatlichen Dienstleistungen bereits abgebaut wurden und welche Gesellschaftsgruppen derzeit außen vor bleiben. In Anbetracht der Machtverhältnisse vor Ort sollten Geber über humanitäre Hilfe hinaus zunächst sozialen – statt physischen – Wiederaufbau forcieren. Kleinteilige, flexible Maßnahmen auf lokaler Ebene, die auf vulnerable Gruppen abzielen und sozialen Zusammenhalt befördern, sind zu priorisieren. Die internationale Gemeinschaft muss die Folgen ihres Tuns abschätzen und im Verlauf monitoren, um einen in Grundzügen inklusiven Gesellschaftsvertrag zu ermöglichen oder diesem zumindest nicht entgegenzuwirken. Im Zweifelsfall darf selbst bei begonnenen Projekten der Mut zu einem ‚take it or leave it‘ nicht fehlen.
Quelle: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne, Tina Zintl, Yannik Sudermann, 15.03.2021