An der Schwelle zum Bundestagswahljahr 2021 stehen Parteien und Politik im Bann von Covid-19 und Kandidat*innensuche. Doch geraten dabei die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) aus dem Blick? Oder könnte auf der Grundlage der Europawahlprogramme und der jüngsten Bundestagsdebatte vom 16. September 2020 ein echter Neuanfang in der Nachhaltigkeitspolitik entstehen? Mit Ausnahme der Alternative für Deutschland (AfD) hatten sich dort alle Parteien mit viel Verve zur Agenda 2030 und der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) bekannt. Aber wie wird aus Anträgen und Debatten konkretes politisches Handeln?
Parteien und Nachhaltigkeit: inzwischen mehr als nichts
In den Programmen der Parteien zur Bundestagswahl 2017 tauchten die Agenda 2030 und die SDGs allenfalls in den Unterkapiteln für Umwelt- und Entwicklungspolitik auf, nicht aber als übergreifendes Narrativ mit Wirkungsmacht in allen Politikfeldern. In den Europawahlprogrammen von 2019 fanden sich verstärkt einige Referenzen zu den Nachhaltigkeitszielen bereits in Präambeln und Einleitungen. So erwähnten CDU, SPD und Grüne die Agenda 2030 und ihre Ziele erstmals schon am Beginn ihrer Programme. Auch die FDP bekannte sich explizit zur Agenda 2030. Die Linke forderte ihre verbindliche Umsetzung. Doch keines der Wahlprogramme hat die SDGs in den einzelnen Fachkapiteln systematisch und explizit zum Maßstab genommen und mit konkreten politischen Maßnahmen und Forderungen verbunden.
Bundestagsdebatte: Momentum für Nachhaltigkeitspolitik im Wahljahr 2021?
Nachdem die Europawahlprogramme eine Aufwertung der Agenda 2030 mit sich brachten, könnte die Bundestagsdebatte vom 16. September 2020 zum Thema „Nachhaltigkeit“ als Impulsgeber für die Wahlprogramme 2021 dienen. In ihrem Antrag forderten die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD, dass alle Ressorts ihre Aktivitäten an der Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung ausrichten. Zur Mitte jeder Legislaturperiode müsse eine Bestandsaufnahme zur Umsetzung und Erreichung der SDGs im Rahmen der DNS vorgenommen werden. Auf dieser Grundlage soll die Bundesregierung einen Maßnahmenkatalog vorschlagen, der dem Bundestag vorgelegt werden kann. Die Grünen forderten in ihrem Antrag, dass die Neuauflage der DNS als übergeordnete Strategie dient, deren Prinzipien und Ziele kohärent in die zahlreichen Einzelstrategien- und Programme verbindlich implementiert werden sollen. Die FDP forderte in ihrem Antrag, im Zuge der für 2020 geplanten Reform der DNS, Ziele auf nationaler Ebene konsequent umzusetzen und als führende Industrienation mit gutem Vorbild voranzuschreiten. Die Linke, die keinen eigenen Antrag eingebracht hatte, sprach sich in der Debatte für soziale Sicherheit als Kernelement für Nachhaltigkeit und Klimaschutz aus. Wenn diese Impulse der Bundestagsdebatte ihren Weg in die Bundestagswahlprogramme fänden, könnte dies zu einer Neuausrichtung der Nachhaltigkeitspolitik ab 2021 führen. Auch der von SDSN Germany vorgelegte Vorschlag einer Fokussierung der DNS auf Schlüsseltransformationen, wie die Kreislaufwirtschaft oder die Agrar- und Ernährungswende und übergreifende Hebel in Form von Finanzen, könnte dabei hilfreich sein. Die Bundesregierung hat diese Überlegungen in der am 1. Oktober 2020 veröffentlichten Dialogfassung für die Weiterentwicklung der DNS in einem gesonderten Abschnitt reflektiert. Im Forum Nachhaltigkeit des Bundeskanzleramtes am 15. Oktober 2020 hat diese Reformoption breite Unterstützung gefunden.
Jetzt das Heft des Handelns in die Hand nehmen
Mit ihren Europawahlprogrammen, den Anträgen ihrer Fraktionen im Bundestag und den vorliegenden Reformoptionen gibt es jetzt gute Grundlagen für die Parteien, für die Agenda 2030 und die SDGs das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Sie sollten die Agenda 2030 in ihren Wahlprogrammen als übergreifendes Narrativ verankern und aufzeigen, wie sie die deutsche Nachhaltigkeitspolitik strukturell neu aufstellen und in den einzelnen Transformationsfeldern umsetzen wollen. Nur wenn die Parteien sich in den nächsten Monaten hier klar positionieren, kann dies in den Koalitionsverhandlungen im Herbst zu konkreter Politik werden. Denn es wird Zeit, bloße Lippenbekenntnisse ad acta zu legen und die von der Weltgemeinschaft beim SDG-Gipfel 2019 ausgerufene Dekade des Handelns zu gestalten. Die Covid-19-Pandemie macht den Weg zu den SDGs nicht leichter, aber genauso sind es eben jene SDGs, die den Kompass für den Weg aus der Krise bieten. Deshalb sollte das Covid-19-Wahljahr 2021 bei allen Parteien und Kandidat*innen im Zeichen der Agenda 2030 und ihrer universellen SDGs stehen.
Quelle: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne, Dominic Kranholdt, 19.11.2020