DIE: Die Neukonfiguration der Welt – Ein Rückblick in die Zukunft

    Jahreszahlen bleiben in Erinnerung, wenn sie mit singulären Großereignissen verbunden werden. 1989 war das Jahr des Falls der Berliner Mauer und läutete das Ende des Ost-West Konflikts ein. Die Terroranschläge von „9/11“ markierten das Jahr 2001. 2008 bleibt für immer mit dem Kollaps von Lehman Brothers und der Weltfinanzmarktkrise verbunden. Auch 2011 war ein bemerkenswertes Jahr, obwohl oder gerade weil es nicht durch ein weltpolitisches Großereignis geprägt wurde. Das vergangene Jahr war vielmehr durch eine Verdichtung globaler Entwicklungstrends gekennzeichnet, die in ihrem Zusammenwirken darauf hindeuten, dass das gesamte Spielfeld globaler Entwicklung in Bewegung geraten ist. Der Rückblick auf 2011 öffnet eine Perspektive auf die Zukunft. Die zweite Dekade des 21. Jahrhunderts wird eine Phase tiefgreifenden globalen Wandels sein.

    Die Einteilung der Welt in Nord und Süd, in Industrie- und Entwicklungsländer, in westliche Führungsstaaten und den „Rest der Welt“ hat sich endgültig überlebt. Die Tektonik der Macht verändert sich tiefgreifend. Galoppierende Staatsverschuldung kennzeichnet die zweite Phase der Weltfinanzkrise. Doch zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind davon nicht die Entwicklungs-, sondern vor allem die OECD-Länder betroffen. Die G-7-Staaten Italien und Frankreich haben Schwierigkeiten, sich auf den internationalen Finanzmärkten mit Geld zu versorgen. Die EU hofft darauf, dass die Schwellenländer Staatsanleihen europäischer Länder ankaufen, um die Krise im Euroraum zu stoppen. In den USA sieht es nicht besser aus. Schon seit mehr als einer Dekade verschuldet sich die westliche Großmacht im Ausland, insbesondere in China. Verkehrte Welt: Der IWF, jahrzehntelang als Krisenmanager und finanzpolitischer Zuchtmeister in den Entwicklungsländern unterwegs, prangert schlechte Regierungsführung, unsolide Haushaltsführung und Vertrauenskrisen in den Industrieländern an. Von asiatischen Beobachtern werden die Strukturschwächen der Industrieländer nicht selten mit Genugtuung kommentiert. Tief sitzt die Verärgerung darüber, dass westliche Experten die asiatischen Währungskrisen Ende der 1990er Jahre auf unverantwortlichen „crony capitalism“, also Vetternwirtschaft, zurückgeführt und dabei die Schieflagen und Pathologien auf den internationalen Finanzmärkten schlichtweg ignoriert hatten. Nun hofft die ganze Welt darauf, dass Asien als Wachstumslokomotive die Weltwirtschaft aus der Krise führen kann.

    Die tektonischen Machtverschiebungen in der Weltwirtschaft sind jedoch nicht nur Folge der Verschuldungskrisen in den Industrieländern, sondern tiefergehender Dynamiken in der globalen Ökonomie. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Arvind Subramanian zeigt, dass seit der industriellen Revolution der Abstand zwischen den westlichen Ländern und nahezu allen Entwicklungsländer immer größer wurde. Seit den 1960er Jahren kehrte sich der Divergenztrend jedoch sukzessive in einen Konvergenztrend um. Zwischen 1960 und 2000 wuchsen 21 Entwicklungsländer schneller als die USA, zwischen 2000 und 2007 waren es bereits 75, unter ihnen auch ein gutes Dutzend afrikanischer Ökonomien. Hinzu kommt: das Wachstum der Entwicklungsländer hängt immer weniger von ihrer wirtschaftlichen Verflechtung mit den Industriestaaten ab, sondern basiert seit einigen Jahren zunehmend auf den Wirtschaftsbeziehungen innerhalb der Gruppe der Nicht-OECD-Länder.

    Die neue Machtkonstellation bleibt unübersichtlich. Die G 7/8 wurde seit der Lehman Brothers-Krise durch die nun einflussreichere G 20 abgelöst. Manche Beobachter halten das Zusammenspiel von USA und China in einer Art G 2 für das neue Zentrum der Weltordnung. Plausibler ist eher eine G-0-Konfiguration, in der keine klare Führungsstruktur mehr vorherrscht. Die westlichen Länder sind durch ihre wirtschaftlichen Krisen geschwächt. China und andere Schwellenländer sind noch auf absehbare Zeit mit großen internen Entwicklungsproblemen beschäftigt und dadurch in ihren global-governance-Kapazitäten begrenzt. In diesem Kontext entstehen völlig neue Allianzen, wie während der Klimakonferenz in Durban. Die EU sowie afrikanische Länder stritten erstmals gemeinsam für ein globales Klimaabkommen und wurden in ihren Bemühungen von den G-8-Ländern USA, Japan, Russland und Kanada behindert. Die Versuche der Schwellenländer, ein gemeinsames Bündnis zu schließen, scheiterten, da sich China eher kompromissbereit gab, während Indien die Rolle des klimapolitischen Hardliners übernahm. Die G 77 – als Verbund der Entwicklungsländer – spielte in Durban, im Gegensatz zu vielen internationalen Verhandlungsrunden der letzten Jahre, keine Rolle mehr. Die G-0-Konstellation eröffnet also Spielräume für kreative Bündnisse über alte Nord-Süd-Barrieren hinweg, kann aber ebenso in vielfältigen Handlungsblockaden münden.

    2011 war auch das Jahr der arabischen Umbrüche. Ob und wie es in der europäischen Nachbarregion gelingt, politische Liberalisierung und den Islam zu verbinden, ist von großer Bedeutung für die internationale Politik. Was können Ägypten, Tunesien, Libyen von der Türkei und Indonesien lernen? (siehe hierzu „Die aktuelle Kolumne“ vom 31.10.2011) Doch die Botschaft, dass Menschen nach Freiheit, Menschenrechten und Rechtssicherheit streben, dürfte nicht nur die Herrscher in Syrien, Saudi Arabien und im Iran irritieren, sondern auch autoritäre Eliten in anderen Weltregionen verunsichern, z. B. in Rußland und China. Insbesondere in China dürfte sich im Verlauf der kommenden ein, zwei Dekaden zeigen, ob es gelingt, die wirtschaftliche Dynamik durch politische Öffnungsprozesse zu stabilisieren oder ob das Riesenreich in gesellschaftliche Stagnation und Instabilität abrutscht. Gezeigt hat sich in 2011 auch, dass IT und soziale Kommunikationstechnologien „dual use-Technologien“ sind. Sie treiben wirtschaftliche Innovationsprozesse an und stellen zugleich das neue Handwerkszeug für Bürgerbewegungen dar. Dieser Zusammenhang lässt sich auf Dauer weder in Moskau noch in Peking ignorieren.

    „Fukushima“ war ein weiteres Weltereignis im Jahr 2011. Es symbolisiert, dass die Bereitstellung von Energie auf erneuerbarer Grundlage zu einem der herausragenden globalen Entwicklungsthemen wird. Nur so können die Risiken der Nukleartechnologie und die Folgen eines gefährlichen Klimawandels vermieden werden. Die Abkehr vom nuklear-fossilen Zeitalter ist kein Selbstläufer. Länder wie Indien, Indonesien, Südafrika, Südkorea, China und Vietnam haben in 2010/11 durchaus ambitionierte Programme zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen aufgelegt, doch sie setzen weiterhin auf Kohle und Kernenergie (siehe hierzu „Die aktuelle Kolumne“ vom 16.01.2012). Deutschland wird eine aktive Energieaußenpolitik betreiben müssen, um für die wirtschaftliche, umweltpolitische und demokratieverträgliche Attraktivität seines Entwicklungspfades zu werben.

    Ein entsetzliches Trauerspiel des Jahres 2011 spielte sich in Somalia, Äthiopien und Kenia ab und hat noch immer kein Ende gefunden. 10 Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht und schaffen es dennoch kaum in die Schlagzeilen der Weltpresse, geschweige denn auf die Prioritätenliste der Weltenlenker der G 20. Das Horn von Afrika ist ein Labor der Zukunft. Hier treffen Staatenzerfall, schwache Regierungsführung und extreme Dürren, die mit der globalen Erwärmung weiter zunehmen werden, aufeinander und zerstören die Lebensgrundlagen der Menschen. Eine internationale Gemeinschaft, die in Durban erneut gezeigt hat, dass sie zu einer wirkungsvollen Bekämpfung des Klimawandels noch immer nicht in der Lage ist, und die zugleich die Vorboten gefährlichen Klimawandels, die am Horn von Afrika zu besichtigen sind, nicht in den Griff bekommt oder gar ignoriert, ist auf die kommenden Dekaden nicht gut vorbereitet.

    Von Prof. Dr. Dirk Messner, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE)

    KolumneJahreszahlen bleiben in Erinnerung, wenn sie mit singulären Großereignissen verbunden werden. 1989 war das Jahr des Falls der Berliner Mauer und läutete das Ende des Ost-West Konflikts ein. Die Terroranschläge von „9/11“ markierten das Jahr 2001. 2008 bleibt für immer mit dem Kollaps von Lehman Brothers und der Weltfinanzmarktkrise verbunden. Auch 2011 war ein bemerkenswertes Jahr, obwohl oder gerade weil es nicht durch ein weltpolitisches Großereignis geprägt wurde. Das vergangene Jahr war vielmehr durch eine Verdichtung globaler Entwicklungstrends gekennzeichnet, die in ihrem Zusammenwirken darauf hindeuten, dass das gesamte Spielfeld globaler Entwicklung in Bewegung geraten ist. Der Rückblick auf 2011 öffnet eine Perspektive auf die Zukunft. Die zweite Dekade des 21. Jahrhunderts wird eine Phase tiefgreifenden globalen Wandels sein.

    Die Einteilung der Welt in Nord und Süd, in Industrie- und Entwicklungsländer, in westliche Führungsstaaten und den „Rest der Welt“ hat sich endgültig überlebt. Die Tektonik der Macht verändert sich tiefgreifend. Galoppierende Staatsverschuldung kennzeichnet die zweite Phase der Weltfinanzkrise. Doch zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind davon nicht die Entwicklungs-, sondern vor allem die OECD-Länder betroffen. Die G-7-Staaten Italien und Frankreich haben Schwierigkeiten, sich auf den internationalen Finanzmärkten mit Geld zu versorgen. Die EU hofft darauf, dass die Schwellenländer Staatsanleihen europäischer Länder ankaufen, um die Krise im Euroraum zu stoppen. In den USA sieht es nicht besser aus. Schon seit mehr als einer Dekade verschuldet sich die westliche Großmacht im Ausland, insbesondere in China. Verkehrte Welt: Der IWF, jahrzehntelang als Krisenmanager und finanzpolitischer Zuchtmeister in den Entwicklungsländern unterwegs, prangert schlechte Regierungsführung, unsolide Haushaltsführung und Vertrauenskrisen in den Industrieländern an. Von asiatischen Beobachtern werden die Strukturschwächen der Industrieländer nicht selten mit Genugtuung kommentiert. Tief sitzt die Verärgerung darüber, dass westliche Experten die asiatischen Währungskrisen Ende der 1990er Jahre auf unverantwortlichen „crony capitalism“, also Vetternwirtschaft, zurückgeführt und dabei die Schieflagen und Pathologien auf den internationalen Finanzmärkten schlichtweg ignoriert hatten. Nun hofft die ganze Welt darauf, dass Asien als Wachstumslokomotive die Weltwirtschaft aus der Krise führen kann.

    Die tektonischen Machtverschiebungen in der Weltwirtschaft sind jedoch nicht nur Folge der Verschuldungskrisen in den Industrieländern, sondern tiefergehender Dynamiken in der globalen Ökonomie. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Arvind Subramanian zeigt, dass seit der industriellen Revolution der Abstand zwischen den westlichen Ländern und nahezu allen Entwicklungsländer immer größer wurde. Seit den 1960er Jahren kehrte sich der Divergenztrend jedoch sukzessive in einen Konvergenztrend um. Zwischen 1960 und 2000 wuchsen 21 Entwicklungsländer schneller als die USA, zwischen 2000 und 2007 waren es bereits 75, unter ihnen auch ein gutes Dutzend afrikanischer Ökonomien. Hinzu kommt: das Wachstum der Entwicklungsländer hängt immer weniger von ihrer wirtschaftlichen Verflechtung mit den Industriestaaten ab, sondern basiert seit einigen Jahren zunehmend auf den Wirtschaftsbeziehungen innerhalb der Gruppe der Nicht-OECD-Länder.

    Die neue Machtkonstellation bleibt unübersichtlich. Die G 7/8 wurde seit der Lehman Brothers-Krise durch die nun einflussreichere G 20 abgelöst. Manche Beobachter halten das Zusammenspiel von USA und China in einer Art G 2 für das neue Zentrum der Weltordnung. Plausibler ist eher eine G-0-Konfiguration, in der keine klare Führungsstruktur mehr vorherrscht. Die westlichen Länder sind durch ihre wirtschaftlichen Krisen geschwächt. China und andere Schwellenländer sind noch auf absehbare Zeit mit großen internen Entwicklungsproblemen beschäftigt und dadurch in ihren global-governance-Kapazitäten begrenzt. In diesem Kontext entstehen völlig neue Allianzen, wie während der Klimakonferenz in Durban. Die EU sowie afrikanische Länder stritten erstmals gemeinsam für ein globales Klimaabkommen und wurden in ihren Bemühungen von den G-8-Ländern USA, Japan, Russland und Kanada behindert. Die Versuche der Schwellenländer, ein gemeinsames Bündnis zu schließen, scheiterten, da sich China eher kompromissbereit gab, während Indien die Rolle des klimapolitischen Hardliners übernahm. Die G 77 – als Verbund der Entwicklungsländer – spielte in Durban, im Gegensatz zu vielen internationalen Verhandlungsrunden der letzten Jahre, keine Rolle mehr. Die G-0-Konstellation eröffnet also Spielräume für kreative Bündnisse über alte Nord-Süd-Barrieren hinweg, kann aber ebenso in vielfältigen Handlungsblockaden münden.

    2011 war auch das Jahr der arabischen Umbrüche. Ob und wie es in der europäischen Nachbarregion gelingt, politische Liberalisierung und den Islam zu verbinden, ist von großer Bedeutung für die internationale Politik. Was können Ägypten, Tunesien, Libyen von der Türkei und Indonesien lernen? (siehe hierzu „Die aktuelle Kolumne“ vom 31.10.2011) Doch die Botschaft, dass Menschen nach Freiheit, Menschenrechten und Rechtssicherheit streben, dürfte nicht nur die Herrscher in Syrien, Saudi Arabien und im Iran irritieren, sondern auch autoritäre Eliten in anderen Weltregionen verunsichern, z. B. in Rußland und China. Insbesondere in China dürfte sich im Verlauf der kommenden ein, zwei Dekaden zeigen, ob es gelingt, die wirtschaftliche Dynamik durch politische Öffnungsprozesse zu stabilisieren oder ob das Riesenreich in gesellschaftliche Stagnation und Instabilität abrutscht. Gezeigt hat sich in 2011 auch, dass IT und soziale Kommunikationstechnologien „dual use-Technologien“ sind. Sie treiben wirtschaftliche Innovationsprozesse an und stellen zugleich das neue Handwerkszeug für Bürgerbewegungen dar. Dieser Zusammenhang lässt sich auf Dauer weder in Moskau noch in Peking ignorieren.

    „Fukushima“ war ein weiteres Weltereignis im Jahr 2011. Es symbolisiert, dass die Bereitstellung von Energie auf erneuerbarer Grundlage zu einem der herausragenden globalen Entwicklungsthemen wird. Nur so können die Risiken der Nukleartechnologie und die Folgen eines gefährlichen Klimawandels vermieden werden. Die Abkehr vom nuklear-fossilen Zeitalter ist kein Selbstläufer. Länder wie Indien, Indonesien, Südafrika, Südkorea, China und Vietnam haben in 2010/11 durchaus ambitionierte Programme zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen aufgelegt, doch sie setzen weiterhin auf Kohle und Kernenergie (siehe hierzu „Die aktuelle Kolumne“ vom 16.01.2012). Deutschland wird eine aktive Energieaußenpolitik betreiben müssen, um für die wirtschaftliche, umweltpolitische und demokratieverträgliche Attraktivität seines Entwicklungspfades zu werben.

    Ein entsetzliches Trauerspiel des Jahres 2011 spielte sich in Somalia, Äthiopien und Kenia ab und hat noch immer kein Ende gefunden. 10 Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht und schaffen es dennoch kaum in die Schlagzeilen der Weltpresse, geschweige denn auf die Prioritätenliste der Weltenlenker der G 20. Das Horn von Afrika ist ein Labor der Zukunft. Hier treffen Staatenzerfall, schwache Regierungsführung und extreme Dürren, die mit der globalen Erwärmung weiter zunehmen werden, aufeinander und zerstören die Lebensgrundlagen der Menschen. Eine internationale Gemeinschaft, die in Durban erneut gezeigt hat, dass sie zu einer wirkungsvollen Bekämpfung des Klimawandels noch immer nicht in der Lage ist, und die zugleich die Vorboten gefährlichen Klimawandels, die am Horn von Afrika zu besichtigen sind, nicht in den Griff bekommt oder gar ignoriert, ist auf die kommenden Dekaden nicht gut vorbereitet.

    Von Prof. Dr. Dirk Messner, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE)

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