BICC u.a.: Deutschland muss mehr Verantwortung für den Frieden übernehmen – jenseits militärischen Engagements

Im „Friedensgutachten 2015“, das am 9. Juni 2015 in Berlin vorgestellt wird, appellieren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von fünf deutschen Friedens- und Konfliktforschungsinstituten an die Bundesregierung, mehr Verantwortung für den Frieden zu übernehmen. Sie sprechen sich für eine präventive Außenpolitik und gegen eine vorrangig militärische Konfliktbearbeitung aus. Im Nahen und Mittleren Osten sollten sich Deutschland und EU als Vermittler einsetzen. Terrorismusbekämpfung dürfe keine vorschnelle Begründung für Waffenlieferungen und die „Ertüchtigung“ von Autokratien sein. Sie fordern, auf kommerzielle Rüstungsexporte an Staaten außerhalb von EU und NATO ebenso zu verzichten wie auf Kampfdrohnen. Angesichts der Ukrainekrise empfehlen sie die Verstärkung der diplomatischen Bemühungen und warnen vor den Folgen militärischer Aufrüstung. Von der EU verlangen die Herausgeber der Studie, mit einer menschenwürdigen Flüchtlingspolitik Verantwortung an ihren Außengrenzen zu übernehmen.

Verantwortungsvolle Außenpolitik muss präventiv sein

Will Deutschland mehr Verantwortung übernehmen, muss es auf eine präventive Außenpolitik setzen. Der Königsweg hierfür: eine Stärkung der Bereiche Zivile Krisenprävention, externe Demokratieförderung und Entwicklungszusammenarbeit. Hier bestehe allerdings erheblicher Nachbesserungsbedarf, so die Wissenschaftler. Demokratie lasse sich nicht von außen verordnen. Deshalb empfehle es sich, offene und inklusive Reformprozesse, die aus den Gesellschaften selbst kommen, zu unterstützen. Dafür müsse der Austausch mit zivilgesellschaftlichen Gruppen in den Ländern verstärkt werden. Eine verantwortungsvolle Politik muss aber auch den Handlungsspielraum für demokratische und soziale Reformen in Ländern des globalen Südens vergrößern, mahnt das Friedensgutachten: „Deutschland und Europa sollten ihre Außenhandelspolitiken verändern, die unmittelbar negative soziale und politische Folgen für den globalen Süden haben, und darauf drängen, dass die Finanzmärkte und internationalen Kapitalströme stärker reguliert werden“.

Verantwortung für gemeinsame Sicherheit in Europa

Angesichts der angespannten Beziehungen zwischen Russland und EU/NATO warnen die Forscher ausdrücklich vor einer Aufrüstung auf westlicher Seite. Dies könne die Situation eskalieren lassen. Vielmehr fordern sie ein Umdenken: gemeinsame Sicherheit müsse angestrebt und hierfür verstärkt auf Kooperation und Diplomatie gesetzt werden. „Wir schlagen eine friedenspolitische Neuorientierung der EU gegenüber ihren östlichen Nachbarn einschließlich Russlands vor, die einerseits auf kooperative Strukturen setzt, zugleich aber auch die russische Annexion der Krim als klare Verletzung internationaler Verträge erachtet.“ Die Wissenschaftler appellieren an die Bundesregierung, den NATO-Russland-Rat wiederzubeleben. Weiterhin müsse ein neues Abkommen zur konventionellen Rüstungskontrolle in Angriff genommen werden. Der Verzicht auf die Stationierung einer NATO-Raketenabwehr in Tschechien und Polen sende ein wichtiges Signal an Russland. Der Abbau von Sanktionen könne als positiver Anreiz in Aussicht gestellt werden, wenn Russland sich in entsprechendem Maße für die Deeskalation in der Ukraine einsetze.

Verantwortung heißt, humanitäre Hilfe leisten

Waffenlieferungen an die Ukraine halten die Gutachter für nicht zielführend. Verantwortung übernehmen müsse die EU mit dringend notwendiger Wirtschaftshilfe für das krisengeschüttelte Land und einer sofortigen Aufstockung humanitärer Hilfe für die notleidende Zivilbevölkerung. Auch im Nahen und Mittleren Osten gelte es, Verantwortung für Menschenleben zu übernehmen. Der Islamische Staat lasse sich von außen nicht ohne hohen militärischen Einsatz unter Einschluss von Bodentruppen einhegen, konstatiert das Gutachten. Den Grausamkeiten des IS dürfe dennoch nicht tatenlos zugesehen werden. Zum Schutz von Zivilisten könnte die Einrichtung von Schutzonen im Rahmen einer humanitären Intervention nach den Grundsätzen der Schutzverantwortung erwogen werden. Dies sei aber in umkämpften Gebieten riskant und böte nur zeitweise Sicherheit. Die Wissenschaftler plädieren für die Möglichkeit, Zufluchtsuchende in akuter Notlage per Luftbrücke zu evakuieren.

Verantwortung an Europas Grenzen übernehmen

Klare Worte finden sich im Gutachten für den Umgang mit Geflüchteten an den EU-Außengrenzen: Dort lassen die europäischen Staaten Schutzsuchende faktisch ertrinken. Es müssen legale und sichere Reisewege für Geflüchtete geschaffen werden, anstatt die Infrastruktur der Schlepper mit militärischer Gewalt zu bekämpfen. Die Wissenschaftler fordern die Abschaffung der Dublin-III-Regelung, wonach jenes EU-Land, das ein Flüchtling als erstes betreten hat, für das Asylverfahren zuständig ist. „Gelänge es der Bundesregierung, auf eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik an Europas Außengrenzen hinzuwirken und für bessere Aufnahmebedingungen im eigenen Land zu sorgen, hätte sie außenpolitische Verantwortung tatsächlich ernst genommen.“

Verantwortung als Vermittler übernehmen

Im Nahen und Mittleren Ostens sollte sich der Westen mit Einmischungen und Parteinahme generell stärker zurückhalten als bislang, empfiehlt das Friedensgutachten. Es verweist auf die instabilen Nachkriegsordnungen, die westliche Interventionen in der Region hinterlassen haben. Die militärische Unterstützung der kurdischen Milizen halten die Friedensforscher für fragwürdig. Sie sei zwar nachvollziehbar, insofern sie das Leben unmittelbar bedrohter Zivilisten zu retten versuche. Der Preis dafür sei aber das Risiko einer unkontrollierten Weiterverbreitung der gelieferten Waffen. Auch Waffenlieferungen an vermeintliche „Stabilitätsanker“ wie zum Beispiel Saudi-Arabien lehnen sie ab. Ein Treibsatz der bewaffneten Konflikte in der Region sei die politische Praxis, den „Feind meines Feindes“ zu unterstützen – mit der Folge von Stellvertreterkriegen. „Die Bundesregierung sollte deutsche Rüstungsexporte an diese autoritären Staaten unverzüglich und ausnahmslos einstellen. Eine gute, an der Entschärfung der saudisch-iranischen Rivalität orientierte Begründung für derartige[nbsp]Waffengeschäfte gibt es nicht“, mahnen sie. Außenpolitische Initiativen des Westens sollten sich auf diplomatische Vermittlungsbemühungen zwischen den regionalen Kontrahenten beschränken. Im israelisch-palästinensischen Konflikt empfiehlt das Friedensgutachten der Bundesregierung, ihre Unterstützung der Zweistaatenlösung zu bekräftigen, indem sie dem Beispiel Schwedens folgt und Palästina bilateral als Staat anerkennt.

Das Friedensgutachten 2015 ist ein Gemeinschaftsprodukt der fünf führenden deutschen Institute für Friedens- und Konfliktforschung. Die Herausgeberinnen und Herausgeber Dr. Janet Kursawe vom Institut für Entwicklung und Frieden (dieses Jahr federführend), Dr. Margret Johannsen vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Dr. Claudia Baumgart-Ochse von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Dr. Marc von Boemcken vom Bonn International Center for Conversion und PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner von der Forschungsstätte der ev. Studiengemeinschaft umreißen in ihrer „Stellungnahme“ die wichtigsten sicherheits- und friedenspolitischen Fragen. Der diesjährige Schwerpunkt lautet „Verantwortung für den Frieden“. Weitere Einzelanalysen beschäftigen sich mit Friedensprozessen und aktuellen Brennpunkten.

Das Friedensgutachten 2015 erscheint im LitVerlag Berlin, br., 240 S., 12.90 EUR, 12.90, CHF, ISBN 978-3-643-13038-9

Mehr Informationen

Bild: www.friedensgutachten.de

Quelle: Pressemitteilung des BICC vom 09.06.2015

Im „Friedensgutachten 2015“, das am 9. Juni 2015 in Berlin vorgestellt wird, appellieren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von fünf deutschen Friedens- und Konfliktforschungsinstituten an die Bundesregierung, mehr Verantwortung für den Frieden zu übernehmen. Sie sprechen sich für eine präventive Außenpolitik und gegen eine vorrangig militärische Konfliktbearbeitung aus. Im Nahen und Mittleren Osten sollten sich Deutschland und EU als Vermittler einsetzen. Terrorismusbekämpfung dürfe keine vorschnelle Begründung für Waffenlieferungen und die „Ertüchtigung“ von Autokratien sein. Sie fordern, auf kommerzielle Rüstungsexporte an Staaten außerhalb von EU und NATO ebenso zu verzichten wie auf Kampfdrohnen. Angesichts der Ukrainekrise empfehlen sie die Verstärkung der diplomatischen Bemühungen und warnen vor den Folgen militärischer Aufrüstung. Von der EU verlangen die Herausgeber der Studie, mit einer menschenwürdigen Flüchtlingspolitik Verantwortung an ihren Außengrenzen zu übernehmen.

Verantwortungsvolle Außenpolitik muss präventiv sein

Will Deutschland mehr Verantwortung übernehmen, muss es auf eine präventive Außenpolitik setzen. Der Königsweg hierfür: eine Stärkung der Bereiche Zivile Krisenprävention, externe Demokratieförderung und Entwicklungszusammenarbeit. Hier bestehe allerdings erheblicher Nachbesserungsbedarf, so die Wissenschaftler. Demokratie lasse sich nicht von außen verordnen. Deshalb empfehle es sich, offene und inklusive Reformprozesse, die aus den Gesellschaften selbst kommen, zu unterstützen. Dafür müsse der Austausch mit zivilgesellschaftlichen Gruppen in den Ländern verstärkt werden. Eine verantwortungsvolle Politik muss aber auch den Handlungsspielraum für demokratische und soziale Reformen in Ländern des globalen Südens vergrößern, mahnt das Friedensgutachten: „Deutschland und Europa sollten ihre Außenhandelspolitiken verändern, die unmittelbar negative soziale und politische Folgen für den globalen Süden haben, und darauf drängen, dass die Finanzmärkte und internationalen Kapitalströme stärker reguliert werden“.

Verantwortung für gemeinsame Sicherheit in Europa

Angesichts der angespannten Beziehungen zwischen Russland und EU/NATO warnen die Forscher ausdrücklich vor einer Aufrüstung auf westlicher Seite. Dies könne die Situation eskalieren lassen. Vielmehr fordern sie ein Umdenken: gemeinsame Sicherheit müsse angestrebt und hierfür verstärkt auf Kooperation und Diplomatie gesetzt werden. „Wir schlagen eine friedenspolitische Neuorientierung der EU gegenüber ihren östlichen Nachbarn einschließlich Russlands vor, die einerseits auf kooperative Strukturen setzt, zugleich aber auch die russische Annexion der Krim als klare Verletzung internationaler Verträge erachtet.“ Die Wissenschaftler appellieren an die Bundesregierung, den NATO-Russland-Rat wiederzubeleben. Weiterhin müsse ein neues Abkommen zur konventionellen Rüstungskontrolle in Angriff genommen werden. Der Verzicht auf die Stationierung einer NATO-Raketenabwehr in Tschechien und Polen sende ein wichtiges Signal an Russland. Der Abbau von Sanktionen könne als positiver Anreiz in Aussicht gestellt werden, wenn Russland sich in entsprechendem Maße für die Deeskalation in der Ukraine einsetze.

Verantwortung heißt, humanitäre Hilfe leisten

Waffenlieferungen an die Ukraine halten die Gutachter für nicht zielführend. Verantwortung übernehmen müsse die EU mit dringend notwendiger Wirtschaftshilfe für das krisengeschüttelte Land und einer sofortigen Aufstockung humanitärer Hilfe für die notleidende Zivilbevölkerung. Auch im Nahen und Mittleren Osten gelte es, Verantwortung für Menschenleben zu übernehmen. Der Islamische Staat lasse sich von außen nicht ohne hohen militärischen Einsatz unter Einschluss von Bodentruppen einhegen, konstatiert das Gutachten. Den Grausamkeiten des IS dürfe dennoch nicht tatenlos zugesehen werden. Zum Schutz von Zivilisten könnte die Einrichtung von Schutzonen im Rahmen einer humanitären Intervention nach den Grundsätzen der Schutzverantwortung erwogen werden. Dies sei aber in umkämpften Gebieten riskant und böte nur zeitweise Sicherheit. Die Wissenschaftler plädieren für die Möglichkeit, Zufluchtsuchende in akuter Notlage per Luftbrücke zu evakuieren.

Verantwortung an Europas Grenzen übernehmen

Klare Worte finden sich im Gutachten für den Umgang mit Geflüchteten an den EU-Außengrenzen: Dort lassen die europäischen Staaten Schutzsuchende faktisch ertrinken. Es müssen legale und sichere Reisewege für Geflüchtete geschaffen werden, anstatt die Infrastruktur der Schlepper mit militärischer Gewalt zu bekämpfen. Die Wissenschaftler fordern die Abschaffung der Dublin-III-Regelung, wonach jenes EU-Land, das ein Flüchtling als erstes betreten hat, für das Asylverfahren zuständig ist. „Gelänge es der Bundesregierung, auf eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik an Europas Außengrenzen hinzuwirken und für bessere Aufnahmebedingungen im eigenen Land zu sorgen, hätte sie außenpolitische Verantwortung tatsächlich ernst genommen.“

Verantwortung als Vermittler übernehmen

Im Nahen und Mittleren Ostens sollte sich der Westen mit Einmischungen und Parteinahme generell stärker zurückhalten als bislang, empfiehlt das Friedensgutachten. Es verweist auf die instabilen Nachkriegsordnungen, die westliche Interventionen in der Region hinterlassen haben. Die militärische Unterstützung der kurdischen Milizen halten die Friedensforscher für fragwürdig. Sie sei zwar nachvollziehbar, insofern sie das Leben unmittelbar bedrohter Zivilisten zu retten versuche. Der Preis dafür sei aber das Risiko einer unkontrollierten Weiterverbreitung der gelieferten Waffen. Auch Waffenlieferungen an vermeintliche „Stabilitätsanker“ wie zum Beispiel Saudi-Arabien lehnen sie ab. Ein Treibsatz der bewaffneten Konflikte in der Region sei die politische Praxis, den „Feind meines Feindes“ zu unterstützen – mit der Folge von Stellvertreterkriegen. „Die Bundesregierung sollte deutsche Rüstungsexporte an diese autoritären Staaten unverzüglich und ausnahmslos einstellen. Eine gute, an der Entschärfung der saudisch-iranischen Rivalität orientierte Begründung für derartige[nbsp]Waffengeschäfte gibt es nicht“, mahnen sie. Außenpolitische Initiativen des Westens sollten sich auf diplomatische Vermittlungsbemühungen zwischen den regionalen Kontrahenten beschränken. Im israelisch-palästinensischen Konflikt empfiehlt das Friedensgutachten der Bundesregierung, ihre Unterstützung der Zweistaatenlösung zu bekräftigen, indem sie dem Beispiel Schwedens folgt und Palästina bilateral als Staat anerkennt.

Das Friedensgutachten 2015 ist ein Gemeinschaftsprodukt der fünf führenden deutschen Institute für Friedens- und Konfliktforschung. Die Herausgeberinnen und Herausgeber Dr. Janet Kursawe vom Institut für Entwicklung und Frieden (dieses Jahr federführend), Dr. Margret Johannsen vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Dr. Claudia Baumgart-Ochse von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Dr. Marc von Boemcken vom Bonn International Center for Conversion und PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner von der Forschungsstätte der ev. Studiengemeinschaft umreißen in ihrer „Stellungnahme“ die wichtigsten sicherheits- und friedenspolitischen Fragen. Der diesjährige Schwerpunkt lautet „Verantwortung für den Frieden“. Weitere Einzelanalysen beschäftigen sich mit Friedensprozessen und aktuellen Brennpunkten.

Das Friedensgutachten 2015 erscheint im LitVerlag Berlin, br., 240 S., 12.90 EUR, 12.90, CHF, ISBN 978-3-643-13038-9

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Bild: www.friedensgutachten.de

Quelle: Pressemitteilung des BICC vom 09.06.2015