Bonn-Voices---Notizzettel---Kloke-Lesch_(ohne-Titel)

Herr Kloke-Lesch, die neuen Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) sollen weit über die bisher geltenden Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) hinausgehen, die sich mit Armutsreduzierung in Entwicklungsländern konzentrieren. Welche anderen Dimensionen nachhaltiger Entwicklung sollen einbezogen werden?

Es geht um zwei entscheidende Veränderungen: Erstens sollen die SDGs universell sein und damit für alle Länder der Welt gelten. Zweitens sollen sie alle Dimensionen nachhaltiger Entwicklung umfassen: die soziale, die ökonomische, die ökologische und auch die politische Dimension. Neue globale Ziele neben der vollständigen Überwindung von Hunger und absoluter Armut sind z.B. die Reduzierung von Ungleichheiten in und zwischen Ländern, der Zugang zu nachhaltiger Energie für alle oder sichere und inklusive Städte. Hinzukommen Ziele für globale öffentliche Güter wie die Stabilisierung des Klimas oder der Erhalt der Ozeane und Wälder.

In dem Grundsatzpapier von Ende Oktober 2014 SDSN Germany: Was wollen wir in den nächsten zwei Jahren erreichen?“, schreiben Sie, dass Deutschland  SDGs für das eigene Land formulieren sollte. Welche Themen in Bezug auf nachhaltige Entwicklung sollten in Deutschland vorrangig umgesetzt werden?

Mit den SDGs müssen ab 2015 alle Länder ihre Entwicklungspfade grundlegend neu ausrichten. Auch Deutschland wird neue Lösungen für seine künftige Entwicklung finden müssen und in diesem Sinne auch ein Entwicklungsland sein. Bislang bleibt Deutschland trotz seiner Rolle als Nachhaltigkeitsvorreiter in wichtigen Bereichen deutlich hinter selbst gesetzten Zielen zurück. Die neuen SDGs sind Aufruf und Chance, die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie nun mit neuem Schwung fortzuschreiben und umzusetzen. Wir sollten viel stärker die globale Dimension des Lebens und Wirtschaftens im eigenen Land, unseren „weltweiten Fußabdruck“, mitdenken. Gleichzeitig sollten wir unsere Mitgestaltung der globalen Politik durchgängig an den SDGs ausrichten. Geopolitik muss heute Politik für die Erde und ihre Menschen sein.

 Welche neuen nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGSs) und die dazugehörenden  Umsetzungsinstrumente sollen  in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie  abgebildet werden? 

Die SDGs setzen auch für Deutschland wichtige Impulse, nicht-nachhaltiger Konsum- und Produktionsmuster zu überwinden, die Rohstoffproduktivität zu erhöhen und die Nahrungsmittelverluste halbieren. Aber auch im sozialen Bereich: Die Halbierung des Anteils der Menschen, die in Deutschland unterhalb unserer nationalen Armutsgrenze leben, ist eine große und wichtige Herausforderung.

Mit dem vom Chef des Bundeskanzleramtes geleiteten Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung, dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung im Deutschen Bundestag und dem Rat für nachhaltige Entwicklung verfügt Deutschland grundsätzlich über eine ausgebaute „Nachhaltigkeitsarchitektur“. Die SDGs sind eine große Chance, diese Strukturen und Prozesse zu stärken. Bereits in 2013 stellte der Peer Review der Nachhaltigkeitsstrategie fest, dass das „Abspulen eines weiteren Routineprozederes“ keine Option sein kann. Nur mit einer wirksamen eigenen Umsetzungs- und Überprüfungsarchitektur für die SDGs kann Deutschland international glaubwürdig entsprechendes von anderen fordern und erwarten.

Die Umsetzung der SDGs ist aber nicht nur eine Frage der Bundespolitik. Auch Länder und Kommunen sowie Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft sollten die SDGs als Einladung und Chance annehmen. Nachhaltigkeitsstrategien auf Landes- und kommunaler Ebene haben das Potential, die SDGs im Dialog und gemeinsam mit den Bürgern umzusetzen. Die Bundesregierung sollte ihre Bürgerdialoge zur Lebensqualität als Instrumente der SDG-Umsetzung gestalten. Immer mehr Unternehmen machen Nachhaltigkeit zu einem integralen Bestandteil ihrer Wachstums- und Innovationsstrategie. Es gilt, diese wertvollen Einzelinitiativen zu verbreitern und öffentlich nutzbar machen sowie Innovationsstaus auf einzelwirtschaftlicher oder Branchenebene zu überwinden.

Wie kann die Wissenschaft dazu beitragen, dass ihre Erkenntnisse und Empfehlungen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft besser verarbeitet werden können?

Wissenschaft ist wie Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik viel zu oft allein auf sich selbst, die eigene „Sphäre“ und ihre Dynamiken bezogen. Und wenn sie sich aus der Sphäre der Wissenschaft hinausbegibt, bleibt sie oft in disziplinären „Milieus“ gefangen. Politikfelder wie die Wirtschafts- oder Gesellschaftspolitik, die Außen- oder Entwicklungspolitik, oder die Umweltpolitik spiegeln sich mit ihren Selbstreferentialitäten auch in der Wissenschaft. Nachhaltige Entwicklung muss von ihrem Ansatz her quer dazu konzipiert werden. Als SDSN Germany wollen wir deshalb Fragen neu stellen, den Austausch jenseits traditioneller Milieus und Silos fördern und so gemeinsam mit anderen Antworten und Lösungen entwickeln. Wissenschaft muss dabei mehr tun, um Strukturen und Prozesse von Politik besser zu verstehen, und gleichzeitig über die eigene Sprache hinausgehen. Sonst redet man zu den Falschen, am Ansprechpartner vorbei oder kommt leicht zu spät.

Ein weiterer wichtiger Beitrag der Wissenschaft liegt in der Erarbeitung belastbarer und gesellschaftlich akzeptierter Indikatoren, mit denen Fortschritte auf dem Weg der nachhaltigen Entwicklung gemessen werden können. Das globale SDSN leistet mit seiner Arbeit zu Indikatoren für die SDGs hier einen besonderen Beitrag.

Was motiviert Sie morgens und wie denken Sie abends darüber nach?

Morgens motivieren mich die Freiheit und die Möglichkeit, am Wissen und den Ideen anderer teilhaben und eigene Erfahrungen weitergeben zu dürfen. Abends bin ich oft dankbar für die Begegnungen mit Menschen, in denen aus unterschiedlichen Erfahrungen gemeinsam Neues entstehen konnte.

Welche Frage würden Sie gerne einmal beantworten, die Ihnen noch nie gestellt wurde?

Können Sie sich Entwicklungspolitik gegenüber Industrieländern vorstellen?

Warum eigentlich nicht? In einer Welt universeller Entwicklungsziele gibt es kein Land, das nicht selber auch zum Gegenstand transformativer Kooperation werden könnte. Das Pro-Kopf-Einkommen eines Landes ist ja auch kein Hinderungsgrund für den Einsatz von VN-Blauhelmen, die Unterstützung von Menschenrechtsarbeit oder die Arbeit des Internationalen Währungsfonds. Funktional verstanden ist Entwicklungspolitik die Mitgestaltung der inneren Verhältnisse in anderen Ländern mit strukturpolitischen Mitteln der Kooperation. Hierfür sind mit Blick auf die neuen SDGs und den Klimawandel erhebliche zusätzlich Mittel vor allem für die ärmeren Länder erforderlich. Es wäre aber ein Ausdruck von Doppelstandards, wenn wir uns gegenüber Ländern niedrigen oder mittleren Einkommens umfänglich über Politikdialog, finanzielle und zivilgesellschaftliche Instrumente z.B. für den Einsatz erneuerbarer Energien satt Kohleverstromung einsetzten, gegenüber reicheren Ländern mit hohem CO²-Emmissionen aber davor zurückscheuten, uns ähnlich robust in deren inneren Transformationsprozesse „einzumischen“. Oder wenn wir ärmeren Ländern nicht ermöglichten, den notwendigen Wandel bei uns in Deutschland kritisch mit zu begleiten. Die Entwicklungspolitik muss sich aus ihrer babylonischen Gefangenschaft in der ODA, im Geber-Nehmer-Syndrom befreien, wenn sie sich in der Welt universeller Entwicklungsziele neu erfinden will.

In einer Erklärung zum bevorstehenden G7-Gipfel in Deutschland fordert das Sustainable Development Solutions Network (SDSN Germany) die Bundeskanzlerin und ihre G7-Kolleginnen und Kollegen auf, im Juni in Elmau entschlossene Beiträge zu weltweit nachhaltiger Entwicklung zu vereinbaren.

Interview: Lisa Eidam